Kleine Gehirnkunde: Wie wir uns durchs Leben simulieren
Unser Gehirn ist ein fauler Sack. Man könnte es auch effizient nennen. Statt uns die echte Welt zu zeigen, speist es uns mit einer Energiespar-Simulation ab. Aber die lässt sich austricksen …
Die Welt da draußen sieht verdammt echt aus. Super Auflösung, läuft flüssig. Das Erstaunliche an dieser unserer Wahrnehmung: Sie ist zum großen Teil eine Simulation. Eine, die aus den Vorhersagen sogenannter intrinsischer neuronaler Netzwerke entsteht, die ständig damit beschäftigt sind, möglichst gut zu schätzen, was als nächstes passiert. Aber wir haben doch Augen, Ohren, Tastsinn und andere Sensoren, die uns mit Daten versorgen? Aus diesem Input könnte unser Gehirn doch ein echtes Abbild der Realität erstellen? Leider nein. Zu wenig Rechen-Power. Zu viel zu tun.
Eingeschlossen in einem dunklen Schädel muss unser Gehirn indirekt aus sensorischem Input schließen, was da draußen los ist. Es muss Gerüche, Geräusche und Licht interpretieren. Muss lernen, was sie für die eigene Sicherheit bedeuten. Und das geht nicht pauschal. Beispielsweise kann ein Knall aus einer Pistole kommen, vom Deckel einer Mülltonne stammen, oder ein Ballon geht kaputt – natürlich aus Platzgründen, haha!
Jedenfalls zieht unser Gehirn Erfahrungen aus seiner Vergangenheit sowie die aktuelle Datenlage heran, um den Kontext zu erkennen und sich für den wahrscheinlichsten Knall zu entscheiden. Ist es in der eigenen Wohnung und erkennt die eigenen Türknallgeräusche nicht wieder, sieht aber draußen den Nachbarn an den Mülltonnen, wird es keine Luftballons in Betracht ziehen.
Das Gehirn integriert Input, Kontext und Erfahrung zum wahrscheinlichsten Szenario, das eintreten wird. Prädiktiv im Sinne von: Was wird wohl als nächstes passieren? Die Vorhersage hat nichts mit dem Wetter, den Lottozahlen oder dem Aktienmarkt zu tun. Diese intrinsische Hirnaktivität ist ständig am vorhersagen, auch ohne sensorischen Input von außen. Gemeint sind vielmehr Millionen über Millionen Mikro-Vorhersagen, die Neuronen zum Verhalten ihrer Nachbarn treffen und aus deren Summe sich die Welt ergibt, wie wir sie wahrnehmen.
Your experience right now was predicted by your brain a moment ago.
So bringt es Lisa Feldman Barrett in ihrem Buch „How emotions are made“ auf den Punkt. Wie groß der Anteil dieser Vorhersagen an unserer Wahrnehmung ist, zeigt die Verteilung der Nervenbahnen zu unserem primären visuellen Kortex. 90 Prozent der Verbindungen, die dort eingehen, kommen nicht etwa von der Netzhaut. Sondern von anderen Hirnbereichen, die allerlei Vorhersagen liefern. Die wenigen Neuronen der Augen reichen gar nicht aus, um all den visuellen Input zu liefern, aus dem unsere visuelle Wahrnehmung zusammengesetzt ist. Das Kabel ist zu dünn für super Auflösung voll flüssig. Lisa:
One human retina transmits as much visual data as a fully loaded computer network connection in every waking moment; now multiply that by every sensory pathway you have. A reactive brain would bog down like your Internet connection does when too many of your neighbors are streaming movies on Netflix. A reactive brain would also be too expensive, metabolically speaking, because it would require more interconnections than it could maintain.
Ein gutes Beispiel sind motorische Vorhersagen: Wirft mir jemand einen Stuhl zu, werd ich ganz nervös. Ich habe zwar schon einige Bälle in meinem Leben gefangen, aber nie einen Stuhl. Ich habe weder einen Zirkuskurs besucht, noch in jungen Jahren Handstuhl gespielt. Da ist keine Stuhlfangerfahrung, aus der mein Gehirn eine Vorhersage ableiten und meinen Körper entsprechend in Stellung bringen könnte. Deshalb fällt es mir sehr schwer, aus den visuellen Echtzeitdaten bzw. aus der Flugbahn des Stuhls schlau zu werden. Dieses sich drehende Gestrüpp aus Vierkanthölzern lässt vielmehr die Alarmglocken bei mir klingen. Wo und wann muss ich zugreifen – mit einer Hand oder mit beiden? – damit ich halbwegs gesund aus der Sache rauskomme? Damit mir in der nächsten halben Sekunde kein Stuhlbein auf den Fuß oder ins Auge fliegt? Ohne eine gute Vorhersage ist der Stress groß. Mit ausreichend Erfahrung hingegen simuliert das Gehirn die Flugbahn, gleicht die sie mit den Echtzeitdaten ab, korrigiert minimal und fängt den Stuhl lässig mit nur einer in Stellung gebrachten Hand auf – so, dass auch das hinterher geworfene Kissen mittig auf der Sitzfläche landet.
Aus Vorhersagen werden Simulationen, die den Großteil unserer Wahrnehmung ausmachen und uns in den meisten Fällen sicher durchs Leben bringen. Aufregend wird’s, wenn die Vorhersagen und Simulationen nicht zu dem passen, was tatsächlich passiert. Etwa beim Lesen:
„Ich bin früh aufgestanden und hab dann in der Küche erstmal eine schöne heiße Tasse Blut getrunken.“
Vorhersagefehler wecken unsere Aufmerksamkeit. Dann machen wir neue Erfahrungen, und wir lernen. Was auch immer man aus dem Satz mit dem Blut lernen kann.
Anhand der Fehler, die durch den Abgleicht mit dem sensorischen Input deutlich werden, kann unser Gehirn seine Simulationen optimieren. Lisa Feldman Barrett spricht von Prediction Loops, die sich ständig, milliardenfach, und auf verschiedenen Ebenen parallel in unserem Gehirn abspielen – zwischen einzelnen Neuronen und ganzen Regionen:

Das ist allerdings eine extreme Verflachung dessen, was in dieser ultra-komplexen Struktur da oben vor sich geht. Deshalb hier noch ein Vergleich, der etwas deeper geht: Unser Gehirn arbeitet so ähnlich wie ein*e Wissenschaftler*in: Es stellt verschieden Hypothesen (Vorhersagen) auf und schätzt anhand seiner Erfahrung (dem gelernten Wissen) und dem aktuellen sensorischen Input von draußen, welche davon die wahrscheinlichste ist. Wenn der Input nicht ganz zur Vorhersage passt – was meistens der Fall ist – kann das Gehirn verschieden reagieren:
als verantwortungsbewusste*r Wissenschaftler*in passt es seine Hypothese an
voreingenommen beachtet es nur jene Daten, die zur Hypothese passen und ignoriert andere. (Ein bisschen wie bei kognitiver Dissonanz): „Also ich sehe hier nur ein leckeres Steak, aber keine Klimaerwärmung.“)
skrupellos kann es den sensorischen Input komplett ignorieren und so tun, als seine Vorhersage Realität.
lernend fokussiert es sich auf sensorischen Input
theoretisch kann es simulieren, ohne sensorischen Input überhaupt zu beachten.
Wir kleinen Wissenschaftler*innen, wir.
Je nach Verteilung von Vorhersage und sensorischem Input nehmen wir eher unsere innere oder die äußere Welt wahr:

Übrigens: Mit der 1a Vorhersagemaschine im Kopf lässt sich auch unsere mit dem Alter nachlassende Faszinationsfähigkeit erklären: In jungen Jahren mangelt es uns an Erfahrung und Wissen, um zutreffende Vorhersagen erstellen zu können. Alles ist neu, es gibt kaum Vorhersagen und wenn doch, werden wir von der Außenwelt eines besseren belehrt. Fahrradfahren, vom Dreier springen, Hip Hop hören: Das Leben ist ein echtes Faszinosum!
Altsackig gehen wir viel mehr „Been there, done that“-Einstellung durchs Leben, leider. Die Simulation läuft rund, das meiste ist bekannt, kaum etwas reißt uns noch vom Hocker. Doch die Simulation lässt sich in Frage stellen. Man kann sie herausfordern und den Schwerpunkt auf den sensorischen Input verlagern. Den Dingen Ansichtigwerden. Ich habs mal mit einem Zaun versucht:
Ich muss zugeben: Die Zaunmeditation hat nicht so gut geklappt. Diese Art von Zaun hab ich schon 100 Mal in meinem Leben gesehen, und länger draufgucken, hat nicht viel mehr gebracht als das Ansichtigwerden von moosigen Stellen. Zum Grübeln gebracht hat mich hingegen das Schild: „Die durch Bojen abgegrenzten Hörner dürfen nicht befahren oder beangelt werden.“
Besser lief es einst, als ich meinem Gehirn Trainingsdaten für seine Simulation entzogen hab. Nachdem ich sieben Tage gefastet hatte, war die Simulation für den Geschmack von Orangensaft unbrauchbar geworden. Der erste Schluck von diesem Getränk hat derart direkt, intensiv und geradezu göttlich geschmeckt, so etwas hab ich danach nie wieder erlebt.
PS: Diese Folge kommt mir irgendwie wirr vor. Was meint ihr?