Körper Frank arbeitet
Teil 2 der Serie: Die Kollegin hat die Nacht durchgetanzt, obwohl heute der Investor kommt. Der ist barfuß und will die neue Creme auf die Haut aller Menschen hauen.
Auf dem Blatt Papier mit der Aufschrift Haut drauf Kosmetik, das an der Tür hängt, fällt Frank Belling ein schmieriger, nacktschneckengroßer, roter Streifen auf. Er braucht einen Augenblick, um der Irritation im gewohnten morgendlichen Trott einen Sinn zu geben: Lippenstift? Dann schließt er die Tür auf und ruft
„Hallo?!“
in die Räume. Die Tür rechts zum Badezimmer ist einen Spalt geöffnet, Licht aus. Dahinter die Tür zur Küche, etwas offener, Tageslicht. Das zweite Zimmer auf der linken Seite ruft erschöpft: „Bin da, bin da. Bin hier.“
Körper Frank geht ins erste Zimmer auf der linken Seite und lässt den rechten Riemen seines Rucksacks über die Schulter in seine Hand gleiten. Mit der anderen holt er seinen Laptop raus und legt ihn auf den runden Esstisch, der sein Schreibtisch ist. Der ist groß genug, dass vier Leute Platz daran finden. Wie seine Stühle strahlt der Tisch eine Ist-mir-egal-Haltung des Innenausstatters aus. Eine opportunistische Anschaffung, die funktioniert und irgendwie aussieht. Ansonsten: Ein DIN A1 Poster, mit Reißzwecken an der Wand befestigt, darauf zu sehen ist die Nahaufnahme einer jungen Haut, so nah, dass sich nicht erkennen lässt, aus welcher Körpergegend oder von welchem Geschlecht sie stammt. Der Porentiefe und dem sie verbindenden Wegenetz aus Fältchen nach zu urteilen ist es eine äußere Partie, vielleicht am Unterarm. Vor dem Fenster hängt ein Steinbrech. Unterm Tisch steht ein leerer Mülleimer.
Statt sich zu setzen, geht Frank rüber zu Jolanta. Er spürt sein T-Shirt, das wie eine Folie an seinem Rücken klebt, nass vom Wegschweiß, der wärmer wird.
„Jola, bist Du fit?“, fragt Frank
„Der Typ kommt um 11, richtig?“
Jolanta Schulzke sitzt in der Mulde eines schwarzen Sessels, der ebenfalls nach günstiger Gelegenheit aussieht. Links davon ihr Schreibtisch, ein richtiger, mit Schubladen auf einer Seite und Schreibtischstuhl davor, mit Monitor, Tastatur und Maus drauf und abgehenden Kabeln. Keine Pflanze im Zimmer, aber eine Holztruhe.
„Der Typ kommt in 3 Stunden. Ich geb Dir eine Decke“, sagt Frank
Frank holt eine aus der Holztruhe, die wie alles hier so aussieht, als hätte sie schon viel erlebt, und legt sie über seine Kollegin.
„Seit wann bist Du denn hier?“, fragt er.
„Weiß nicht genau. Vier oder fünf“, antwortet sie und rollt sich zur Seite in die Decke.
Körper Frank setzt sich in seinem Zimmer auf einen der Esszimmerstühle, klappt seinen Laptop auf und starrt durch die Luftaufnahme der Golden Gate Bridge hindurch.
Der Investor ist genau so ein Witz wie die Hautcreme. Aber hey, die Leute haben Humor. Wir erzählen Ihnen, dass sie sich unsere Creme auf die Haut hauen sollen. Mit dem eigens entwickelten Haut-drauf-Handschuh. Der ist aus hautähnlichem Material, das sich per Knopfdruck im Nu auf optimale 37° C erwärmt und die Creme im Drauf-hau-Moment blitzartig an die Poren abgibt. Das regt die Durchblutung an, und so zieht unsere Creme viel schneller und tiefer ein als herkömmliche Cremes. Verrückt! Kauf ich! Und bevor Godzilla die Golden Gate hinwegfegt, könnte er doch kurz unseren Handschuh überziehen und sich ein wenig Creme draufhauen? Bei der Haut hätte er es jedenfalls dringend nötig! Wir sollten Godzilla für die nächste Kampagne in Betracht ziehen.
Um 10:30 Uhr steht Frank vor Körper Jolanta, der bewusstlos und eingerollt auf dem Sessel liegt. Er beugt sich runter und flüstert „Hey, aufwachen!“ in ihr Ohr. „In einer halben Stunde kommt der Investor.“
Jolanta öffnet die Augen, schließt den Mund. An ihrer Oberlippe erzählt ein Swoosh aus Lippenstift von der Dynamik ihrer Nacht. „Ich geh mich frischmachen“, sagt sie und schlägt die Decke zurück. Der Wärmedunst aus ihrem Nest steigt Körper Frank in die Nase.
Um kurz vor 11 klingelt es, dazu ein Klopfen und ein „Bin schon oben an der Tür!“. Frank Belling und Jolanta Schulzke gucken sich in die Augen. Er steht im Flur, sie kommt aus dem Badezimmer. 2,8 Millionen Follower, 3,5 Millionen Euro Jahresumsatz und ein Investor für die Creme, die man haut. Mal sehen.
„Gernot Filser, wir hatten geschrieben und telefoniert, schön, sie beide endlich in echt kennen zu lernen, es gibt sie also wirklich!“
Sein Händeschütteln gleicht einem Vibrieren, so hochfrequent ist es.
„Es gibt uns wirklich!“, antwortet Jolanta mit falscher Freude.
„Und die Creme, die man haut, auch!“, ergänzt Frank
Basecap, Dreitagebart, Holzfällerhemd, Cargopants und keine Schuhe. Gernot Filser sagt: „Wer Geld hat, braucht keine Schuhe. Was trinken möchte ich übrigens nicht. Wollen wir uns setzen?“
Einweiser Frank zeigte mit seinem rechten Arm in sein Zimmer: „Gerne doch, hier entlang.“ Sie setzen sich als gleichseitiges Dreieck an den runden Tisch.
„Ich bin der Erste, richtig? Es gibt nur euch zwei und sonst niemand?“
„Richtig“, sagt Jolanta. „Läuft alles über Whitelabel-Produktion und direktes Fullfillment mit Online-Shop von der Stange. Social ist der Treiber. Die Leute hauen sich die Creme nicht nur auf die eigene Haut – ich sag nur Schenkelklopfer 2.0 –, sondern vor allem auch gegenseitig. Sie geben sich High Fives, die gut für die Handflächen sind. Klatschen sich die Creme auf den Rücken, auf die Wange, auf den Hintern. Und die Synchron-Hauen-Videos, die bei Tik Tok abgehen, haben zu ersten Vereinsgründungen geführt –“
„ – Ziel muss sein, Synchron-Hauen als olympische Disziplin bei den Sommerspielen in drei Jahren zu platzieren! Leute, es gibt noch tausende Quadratkilometer Haut zu erobern, noch viel Haut zu hauen mit unserer Creme. Allein die Diversifizierungsmöglichkeiten! Creme für normale Haut, für Hornhaut, Gesichtshaut, Intimhaut, für die Füße, für trockene bis schuppige, für fettige Haut. Ihr seht, ich will. Und weil ich es ehrlich mag, sagt mir nur eins: Wie kommt der Lippenstift an euer Türschild?“
Gernot Filser und Frank gucken beide im 60°-Winkel zu Jolanta.
„Ich bin eine Tanzmaus, Herr Filser. Vorhin, es müsste etwa 4 Uhr morgens gewesen sein, bin ich reichlich erschöpft aus dem benachbarten Club hier her ins Büro gegangen, um die Präsentation für unseren Termin noch fertig zu machen. Wollen Sie die eigentlich noch sehen?“
„Jetzt nicht. Schicken Sie sie mir einfach im Nachgang per Mail. Was ist mit dem Lippenstift?“
„Ich war ziemlich ausgepowert und musste mich oben am Türrahmen abstützen. Kann sein, dass ich dabei kurz eingeschlafen bin, jedenfalls bin ich hochgeschreckt, als meine Oberlippe das Schild berührte.“
Gernot Filser sagt: „Der Laden läuft, das gefällt mir. Ich werde dafür sorgen, dass sich dieser Quatsch zu einer langfristigen Wahrheit entwickelt. In 50 Jahren sollen sich die Leute wundern, dass man sich früher Creme auf die Haut geschmiert und nicht gehauen hat! Natürlich nur, wenn ich mich wollt. Meine Leute schicken euch ein paar Angebote, und ihr überlegt es euch, ok? Alles auf einmal, 49 Prozent, was auch immer, ihr habt die Wahl! Und wenn es euch nicht passt, hau ich noch was drauf, haha!“
Gernot Filser steht auf und geht in den Flur. Frank und Jolanta hinterher. Mit einer Hand an der Türklinke sagt Filser: „Leute, ihr werdet von mir hören. Und dann raus aus der Whitelabel-Produktion und rein in den Bau eigener Creme-Labore und -Fabriken! Arrivederci!“
Filser macht die Tür auf, dreht sich beim Rausgehen um und zeigt auf das Türschild mit der Nacktschneckenspur. Er steckt seinen Zeigefinger unter seine Oberlippe, schiebt ihn hoch, bis das Fleisch sein Dehnungsmaximum erreicht hat und wieder in seine ursprüngliche Lippenform schnackelt und fährt dann mit damit über Jolantas Spur von heute früh. Dabei guckt er auf seine nackten Füße.
Ich hab heute Geburtstag, ohne Witz! Ratet, was ich mir wünsche 😘