Lass mich nicht allein! Ich bin doch da. Eine Doppelfolge.
Wenn Verlassenheitspanik auf Fürsorge trifft, gibts ein Happy End. Über zwei Basisemotionen, die sich ergänzen. Und über Sandra Bullock im Baumarkt.
Dieses Gefühl, das mit einer Welle Adrenalin durch den Körper schwappt. Das physisch spürbar ist. Das mich an nichts anderes als diese eine Wichtigkeit denken lässt: Das Kind ist weg!
Der Baumarkt am Hermannplatz, Hauptstadt. Ich gucke in einen Gang nach dem anderen. Rote Riesenregale. Unwichtige Leute. Ein Gabelstapler. Kein Kind.
Mein Körper in heller Aufregung. Mein FÜRSORGE-System bis zum Anschlag hochgefahren.
Man steckt ja nicht drin in so einem Kind, aber ich selbst erinnere mich noch an diesen Moment in meiner bis dahin etwa fünfjährig währenden Kindheit: Rummel in einer Kleinstadt oberhalb der Elbe. Remmidemmi überall, blinkende Lichter, Kakophonie der Karussells. Ich in einer Menschenmasse, welche die brownsche Molekularbewegung nachzuahmen scheint. In meiner Hand ein Brötchen mit Burgunderschinken, der warme Tränen Wasserfett-Emulsion auf meine kleine Hand weint. Mir kommen derweil auch Tränen, auch salzig, aber nicht so fettig. Denn egal wo hin ich gucke: Mein Vadder ist weg! VERLASSENHEITSPANIK steigt in mir auf. So muss sich Sandra Bullock im Film Gravity gefühlt haben.
Im Baumarkt am Hermannplatz: Keine Sandra Bullock weit und breit. Die Ratio spielt den Fall runter: „Es kann ja nicht weg sein. Zuletzt gesehen vor maximal zwei Minuten, kurze Beine, weit kann es nicht sein. Und geklaut hat es bestimmt niemand. Viel Verzweiflung am Hermannplatz, aber Kinderdiebe? Nicht doch.“
Das FÜRSORGE-System hält dagegen: „Ich würd es zumindest gern hören. Wieso ruft es nicht? Sehen wäre natürlich noch besser. Es geht immerhin um gut die Hälfte meiner vererbten genetischen Informationen. Dazu die zwei Jahre, die ich in die Aufzucht gesteckt habe. Es steht einiges auf dem Spiel!“
Beim Kind keine Spur von VERLASSENHEITSPANIK: Ich entdecke es im Gang mit den Schraubenziehern. Da hatte ich doch eben grad schon geguckt? Ich denke kurz an Baumarkt-Wurmlöcher, bevor die Wiedersehensfreude die gesamte Bandbreite meines Bewusstseins in Beschlag nimmt. Mein FÜRSORGE-System kann sich nun wieder entspannt der Hälfte meiner vererbten genetischen Informationen widmen.
Das Kind lutscht an einem sehr großen Schraubenzieher, erst vorn am Kreuzschlitz, dann längs den gummierten Griff hoch. Die Gummierung haftet, die Zunge macht sich lang. Wenn schon kein Vatta, dann halt ein Schraubenzieher? Das Kind ist etwa zwei Jahre alt, was der Grund sein könnte, weshalb es nicht verlassenheitspanisch weinend und nach mir rufend und suchend durch die Gänge getorkelt ist.
Denn die Basisemotion VERLASSENHEITSPANIK ist vor allem in den ersten sechs Lebensmonaten ausgeprägt. Mark Solms schreibt in „Hidden Spring“, wie dabei sekundäre Gefühle entstehen. Im Verlaufe der VERLASSENHEITSPANIK kommt nämlich auch das WUT-System ins Spiel: „Blöde Bezugsperson, warum zum Teufel kümmerst Du Dich nicht um mich?!“ In dieser emotionalen Konfliktsituation hemmen sekundäre Schuldgefühle die Wut. Interessant: Lisa Feldman Barrett hat herausgefunden, dass sekundäre Emotionen wie Scham, Neid oder Eifersucht Hybride aus Emotion und Kognition sind. Ich meine, auch bei ihr gelesen zu haben, wie schlimm sich der Mangel an Zuneigung auf die Hirnentwicklung von Kleinkindern auswirkt. Ein sehr, sehr schreckliches Beispiel dafür sind die Kinder des rumänischen Heims Cighid, die 1990 befreit wurden. Zu schrecklich für Details. Viele von Ihnen waren bereits in der „stillen Phase“. Stiller Kummer, Lethargie, Aufgabe.
Dieser Zustand ähnelt der einer Depression. Chemisch betrachtet und flach ausgedrückt schalten dabei bestimmte Opioide das Dopamin ab. Ein Gefühlszustand, der dem SEEKING diametral gegenüber steht. Die entsprechenden Hirnschaltkreise unterstützen lebenslange Bindungen – leider auch zu bestimmten Stoffen und damit viele Formen des Suchtverhaltens. Doch genug des Fachinformations-Stakkatos. Zurück zum Hermannplatz.
Zum Glück kommt es selten zu solch dramatischen Szene wie der mit Sandra Bullock. Denn unser FÜRSORGE-System sorgt dafür, dass wir fast nicht anders können, als uns um kleine Kinder zu kümmern. Besonders natürlich um die eigenen. Was nicht bedeutet, dass die Aufzucht der Kleinen ein Selbstläufer ist. Oft genug kommt beispielsweise auch das WUT-System zum Einsatz. Ich zum Beispiel werde auch vom SEEKING-System abgelenkt. Mich zieht es nicht 24/7 auf den Spielplatz oder in die Küche zum Plätzchen backen. Ich such auch nach dem sportlichen Nervenkitzel und der Zeit mit Freunden. „Indem wir lernen, die verschiedenen emotionalen Bedürfnisse auf flexible Weise miteinander zu vereinbaren, schaffen wir die Grundlage für psychische Gesundheit und Reife“, schreibt Mark Solms. Ob das Zitat bei familiären Ich-brauch-Zeit-für-Freunde-Verhandlungen hilft?
Nächste Folge, letzte Folge! Es gebt um ein System, das mit seinem Als-ob-Charakter sogar der biologische Vorläufer des Denkens an sich sein könnte: das SPIELEN.
Some housekeeping zum Schluss.
Leser Christoph schrieb: „Liest sich gut weg der shit. Allerdings werde ich immer mal wieder von Grammatik- bzw. Rechtschreibfehlern aus dem Flow gerissen.“ Danke für die 💐! Und sorry für den Sand im Textgetriebe. Der lässt sich mit einem Making-of von deep shit ganz flach zwar nicht entschuldigen, aber vielleicht erklären: Während das Nudelwasser kocht, schreibe ich einige Fetzen. Auch im Supermarkt an der Kasse. Tatort gucke ich nicht mehr. Und sitze ich mal auf dem Sofa, muss ich mich mental gegen Udo Lindenbergs Komet abschirmen, den bestimmte Familienmitglieder in Endlosschleife und akustisch unabschirmbar laut erklingen lassen. Jedenfalls: Ich schaff bald auch noch Lektorat und Korrektorat unter der Dusche oder beim Staubsaugen 🫠. Nicht, dass es bald raw shit ganz flach heißt … “