Zum Zahnarzt muss ich trotzdem: Über die Alltagstauglichkeit von dsgf
Ich hab Feedback gekriegt! Eins. dsgf habe keinen praktischen Nutzen fürs alltägliche Leben. Hier also der Versuch, für verrückte, aber unpraktische Erkenntnis zu begeistern.
Einer meiner Lieblingsleser meinte neulich: „Buchmännchen, das ist ja alles schön und gut und flach, was du da schreibst. Aber mir fehlt da immer ein bisschen der praktische Nutzen für meinen Alltag. Ist ja nett zu wissen, dass die Entropie unaufhaltsam ist und zur absoluten und universumsweiten Unordnung führt. Aber zum Zahnarzt muss ich trotzdem.“
Volltreffer.
Was soll ich sagen: Bei hoher Entropie schmeckt eine Suppe nicht besser. Höchstens anders. Bei geringer Entropie ist das Maß der Unordnung geringer, das wäre im Fall der Suppe der Zustand, in dem sie noch nicht püriert ist. Wenn Kartoffeln, Möhren und Lauch noch in groben Stückchen vorhanden sind. Aber stimmt schon: Im Rezept steht nicht: „Und nun erhöhen wir die Entropie, indem wir alles mit dem Pürierstab schön gleich verteilen.“ Wieso auch.
Bei anderen universellen physikalischen Phänomenen wie der guten alten Gravitation verhält es sich ähnlich. Auf sie ist Verlass, wenn man vom Zehner springt. Oder sich anstrengt, eine 7er-Route zu klettern. Aber das kann man auch, ohne zu wissen, dass man eigentlich in eine Mulde der Raumzeit fällt und das Wasser bzw. das Klammern an den Kletergriff einen vom Fallen abhält.
Kegeln ist anders als mit Dieter Bohlen
Wahrscheinlich muss ich noch häufiger über den zweiten Themenbereich von dsgf schreiben: über Bewusstseinsforschung bzw. die Fragen, wie wir die Welt da draußen und die in unserem Kopf wahrnehmen. Dann ließe sich das ein oder andere für den Alltag nutzen. Super flach ausgedrückt sind wir in erster Linie kohlenstoffbasierte Lebensformen, die sich viel auf ihre Selbsterkenntnis einbilden, aber doch nur Automaten sind. Auch wenn es sich nicht so anfühlt. Zum Glück.
Hat man diese Erkenntnis im Hinterkopf, führt sie im Alltag vielleicht hier und da zu mehr Gelassenheit. Oder zu mehr Mitgefühl. Denn unterm Strich können wir wenig dafür, wie wir uns verhalten. Diese eine komische angeheiratete Cousine ist, wie sie ist, und zwar nicht, weil sie es böse meint. Sondern, weil sie eine langjährige Erfahrungsgeschichte hat, in der wer weiß was passiert ist. Weil sie in der Genlotterie zufällig Lose gezogen hat. Und weil ihre Hormone und Botenstoffe in einem ganz eigenen Mix in einem ganz eigenen Hirn wirken. Etwa, wenn sie nicht versteht, dass kegeln anders ist, als mit Dieter Bohlen. Ist ja auch nicht so einfach der Witz. Ich find ihn sehr lustig, sie denkt, ich bin ein Freak. Aber hey, auf der Rückfahrt vom Familientreffen denk ich so bei 130 auf der Autobahn: I dont’t judge her. Weil ich’s auch gar nicht kann.
Wie die komische Cousine kann auch ich nichts dafür
Jedenfalls werde ich auch mit weiteren dsgf-Folgen zum Oberstübchen keine psychologischen Alltagstipps geben können. Kein „Wenn Sie das lesen, sind Sie erfolgreicher bei der nächsten Gehaltsverhandlung!” Das unterscheidet dsgf von Rezept- oder Tipps-und-Trick-um-dieses-oder-jenes-zu-machen-Newslettern. dsgf kommt von der entgegengesetzten Richtung: Allgemein gültige Aussagen, Modelle und Theorien, die die Welt erklären statt einzelner Beschreibungen von Phänomenen, ohne die Welt zu erklären.
Dass selbst so bizzare Theorien wie die Quantenmechanik zu richtig coolen praktischen Anwendungen geführt haben, ist unbestritten. Allerdings braucht's mehr als ein paar dsgf-Leser*innen, um
Kernspintomographen
Atomuhren
Rastertunnelmikroskope
Halbleiter (Computer, Handys …)
oder Quantencomputer
zu bauen. Das ist nicht mal eben so im Alltag hinten im Zimmer gemacht. Also kann ich auch leider wenig praktischen Quanten-Alltagsnutzen bieten. Nur ein bisschen Verständnis. Ein paar Lichter, die angehen. Puzzleteile, die sich fügen.
Zumindest ich bin immer ganz aus dem Häuschen, wenn neue Puzzleteile dazu kommen und irgendwie dieses übergeordnete Verständnis von allem erweitern. Wie die komische Cousine kann auch ich wahrscheinlich nichts für dieses Grundinteresse. Mark Solms, Neuropsychologe und Autor des famosen Buches „The hidden Spring” schreibt über sogenannte Basis-Emotionen, die uns alle steuern. Die zweite ist das Seeking. Es löst Explorationsverhalten aus. Hunde gehen im Unterholz auf Entdeckungsreise, wir gucken uns die Welt im Urlaub an und probieren allerlei andere Erlebnisse aus. Oder sitzen in der U-Bahn und seeken Neues in Büchern wie dem von Solms: „Wenn wir nicht gerade von einem der anderen, aufgabenbezogenen Affekte beherrscht werden, tendiert unser Bewusstsein zu diesem generalisierten Interesse an der Welt. Seeking ist gewissermaßen unsere Standardemotion.”
Nachbarn, die Kartons ungefaltet in den Container werfen
Wenn ich lese, wie unvorstellbar extrem Neutronensterne unterwegs sind, hat das null Relevanz beim Windeln wechseln. Aber abgefahren ist es trotzdem. Irgendwie bereichernd über die Windel hinaus.
Dann sitz ich da und denk zur Geschichte des Universums: Das gibt’s doch gar nicht! Da kommt so eine Singularität wer weiß woher, faltet flink die Raumzeit auf, bringt Staub mit und die gute alte Gravitation ins Spiel, Sterne und Planeten bilden sich, auf der Erde auch Leben, obendrein noch solches, das über sich selbst und alles mögliche nachdenkt und sogar noch ziemlich überzeugend herausfindet, wie das alles endet: Die unerbittliche Entropie erreicht endlich ihr allzeit angestrebtes Maximum und im kalten Universum bleiben nur ganz viel Leere und schwarze Löcher. (Ob das Universum reißt auseinander, mal sehen.)
Das Universum zieht eiskalt sein Ding durch
Klingt komisch, aber sowas macht mich glücklich. Dieses Gefühl: Ich weiß, was geht. Das gibt mir eine tiefe Ruhe und Gelassenheit. Auch wenn ich mich in weiter oben liegenden Angelegenheiten des Alltags natürlich weiterhin tierisch aufregen muss. Wenn die Nachbarn wieder ihre Kartons ungefaltet in den Container werfen, drei Kartons, Container voll, WIE HIRNAMPUTIERT MUSS MAN SEIN!?!?!
Aber über die Jahre und auf dem Weg zur eigenen maximalen Entropie aka Tod, lässt es mich immer wieder schmunzeln, dieses Universum: Lässt sich von nix aus der Ruhe bringen und zieht eiskalt sein Ding durch – bei minus 270C°.
Fazit: Den Alltag praktischer zu gestalten, ist schon gut. Ich hab beispielsweise ein System entwickelt, nach dem ich die Klamotten vorsortiert aufhänge, weil ich sie dann noch schneller abhängen und in die Schränke räumen kann. Aber trotzdem interessant zu wissen, dass auch das nur wieder ein Kampf gegen die elendige Entropie ist. 🙃
PS: Zahnarztbesuche und die Alltagstauglichkeit der Bewusstseinsforschung mal dahin gestellt: Immerhin verbirgt sich in diesem Organ da oben ein Großteil der Ursachen, warum wir überhaupt zum Zahnarzt gehen. Oder Wäsche aufhängen. Faszinierend!