Das Leben kam nicht per DHL auf die Erde
Aber wie sonst? Wie entstanden erste Zellen? Und was hat es mit dem milliardenjährigen Entwicklungsstau auf sich, der sich erst durch ein sehr unwahrscheinliches Ereignis auflöste?
Uns Lebewesen, die die Welt multimedial wahrnehmen, ist das Wesen des Lebens intuitiv klar. Wir hören den Regen, sehen das Fleisch, schmecken den Morgenmund, riechen das Sofa und fühlen den Baum. Wir sind Vielzeller mit einem tollen Körper und können Lollis lutschen, Intarsien schnitzen oder uns in der Hängematte der inneren Wahrnehmung hingeben. Ein Blick auf einen vertrockneten Regenwurm reicht uns, um zu verstehen, was nicht lebt.
Im Rückspiegel der Entwicklung sind allerdings einige Wesen zu erkennen, die nicht so ausdrucksstark wie wir daher kommen. Bakterien. Oder Viren, die ohne Wirtszellen so gut wie nichts auf die Reihe kriegen. Deshalb in dieser Folge die Frage: Was unterscheidet das Lebendige vom nicht Lebendigen? Und wo kommt’s her?
Wer hat’s geschickt? Gott etwa?
Zu Herkunft und Zeitpunkt: Da kann man von einer Twilight-Zone der Entwicklung sprechen, in der eins zum anderen führte. Die Kategorie Leben kam ja nicht per DHL und sprang aus einem Paket. Damals, vor ungefähr 3,5 Milliarden Jahren, gab’s ja noch keine Logistikunternehmen. Geschweige denn Zusteller. An wen sollte das Paket überhaupt adressiert gewesen sein? Und wer hat’s schickt? Gott etwa?
Die letzte große Lieferung kam vom Universum, etwa 1 Milliarden Jahre zuvor. Ein Mars-großer Protoplanet namens Theia knallte infernalisch mit der jungen Erde zusammen, zum Glück nicht frontal, sonst wären wohl beide kaputt gegangen. So aber zerriss es nur Theia, und aus seinen Überresten entstand der Mond. Die Atmosphäre auf der Erde bestand danach eine zeitlang aus knapp 2000 °C heißem Gesteinsdampf. Warum sie 100 Millionen Jahre später fast vollständig mit Wasser bedeckt war, aus dem kleine Vulkaninseln ragten? Ungewiss.
Auch 900 Millionen Jahre später entfleuchte die Hitze des Erdinnern noch durch Vulkanschlote, auch unter Wasser. In deepen Gegenden jiggelten und wiggelten Atome und kleine Moleküle um hydrothermale Quellen1. Es war weniger Gott, es ergab sich zufällig. Die Umstände waren günstig. Das Universum war im Flow. Die Physik stimmte.
Can physics explain life? Living cells , like everything else, are subject to the laws of physics. Yet take a look inside a cell and you are met with staggering complexity. A network of interlinked structures, many of them molecular machines with moving parts, perform a complex dance of minutely choreographed activity. This is unlike anything in our experience. The culmination of this activity is something equally unique: the cell produces a copy of itself.
Das hat Liam Graham deep ausgedrückt in seinem Buch Molecular Storms: The Physics of Stars, Cells and the Origin of Life. Ich mache flach weiter:
Drüben bei den hydrothermalen Quellen stieg damals eine sehr lange und heiße Biochemie-Party, intim und polyamor. Die Moleküle wurden immer größer und komplexer. Nicht nur Aminosäuren, auch RNA, der Strippenzieher hinter der viel zitierten DNA, entstanden. Da muss ich gleich an die ebenfalls viel zitierte Energie denken, die man schon braucht, die aber langweilig ist im Vergleich zur Schicksal-des-Universums-bestimmenden Entropie.
Die RNA konnte Informationen speichern, anhand derer aus Aminosäuren Proteine katalysiert werden konnten. Werden konnten? Wieso diese das handelnde Subjekt verschleiernde Passivkonstruktion? Wer hat’s gemacht? Die auf physikalischen Prinzipien beruhenden biochemischen Prozesse. Es konnte passieren im nebligen Grenzgebiet zwischen belebter und unbelebter Materie. Im Laufe der vielen, vielen Zeit (wie wir die Richtung der Entropie nennen).
Das geordnete Schwein kann über den Acker hoppeln, das gleich verteilte Hackfleisch nicht
Dass diese molekularen Systeme sich dann auch noch selbst replizieren konnten, war ein echter Knaller. Vom planlosen, thermodynamischen Ineinander-Gestolper der Moleküle hin zu informierten Strukturen und Fortpflanzungsexperimenten, die Runde um Runde zu besser angepassten Varianten führten.
Zum thermodynamischen Gestolper sagte der Nobelpreis tragende und humorvolle Physiker Richard Feynman2:
… if we were to name the most powerful assumption of all, which leads one on and on in an attempt to understand life, it is that all things are made of atoms and that everything that living things do can be understood in terms of the jigglings and wigglings of atoms.
Und weil die Entropie echt nerven kann, brauchte es noch Wände. Es brauchte ein Innen und ein Außen, damit man gegen diesen ewigen Trend hin zur Unordnung ankämpfen konnte. Denn die Entropie und damit die Gleichverteilung von allem nimmt immer weiter zu, das besagt der zweite Hauptsatz der Thermodynamik, dieses physikalische Schwergewicht, dieses unerbittliche. Kaffee und Milch werden sich nie entmischen. Doch mit einer gleich verteilten Mischung von Molekülen lässt sich nicht viel anfangen, das geordnete Schwein kann über den Acker hoppeln, das gleich verteilte Hackfleisch nicht.
Damit sich die komplexen Strukturen des Lebens gegen den ewigen Gleichmacher der Entropie behaupten konnten, verschanzten sie sich hinter Membranen und Zellwänden. Über diese Grenze kam nur, wer den richtigen chemischen Ausweis hatte. Gut gemachte Fälschungen sind bis heute im Umlauf, etwa in Form von Viren, die Membranen austricksen, ohne sich dabei zu verstecken. (Von solchen Mechanismen können Drogenschmuggler im Hamburger Hafen nur träumen.)
Was zeichnet uns Lebewesen aus?
Wir stoffwechseln.
Wir speichern und verarbeiten Informationen.
Wir grenzen das wilde Außen von unserem gut organisierten Innen ab.
Wir replizieren uns.
Da kommt Leben in die Bude. Das kam aber lange Zeit nicht aus dem Quark, gute 1,5 Milliarden Jahre dümpelte es einzellig herum. Komplexe Biochemie mit einem Plan, aber ein bisschen mehr als das kann man schon erwarten von 1,5 Milliarden Jahren genetischen Rummexperimentierens. Etwa, dass sich die Einzeller zusammentun und Vielzeller bilden, in denen spezielle Zellen spezielle Aufgaben übernehmen. Doch die damaligen Einzeller waren zu schwach. Keins ihrer Mutation-Selektion-Experimente hatte einen Stoffwechsel hervorgebracht, der sie mit der nötigen Energie versorgen konnte. Für mehr DNA, mehr Proteinbiosynthese, größere Zellen und alles – Komplexität kostet.
1,5 Milliarden Jahre kam das Leben nicht aus dem Quark. Konnte diesen energetischen Graben nicht überwinden, auf dessen anderer Seite ungeahnt komplexe Vielzelligekeit in Form von Würmern, Insekten, Fischen, Dinosauriern, Faultieren und dir und mir frohlockte.
Das Leben würde noch heute einzellig rumsuppen, wenn nicht diese unglaubliche Unwahrscheinlichkeit passiert wäre. Der tolle NPR Radiolab Podcast zu diesem evolutionären Lottogewinn drückt es so aus:
It’s the story of one cosmic oops moment that changed the game of life forever.
Die Geschichte geht so: Wie viele andere Bakterien auch dümpelt dieses eine rum – was kann es schon groß anderes machen außer Rumdümpeln und sich vermehren. Eines Tages – endlich! – nähert sich ein anderes, kleineres, einfaches Bakterium, und die beiden rempeln sich an. Unfassbar ist nun, mit Blick auf die oben erwähnte Membran, durch die so leicht nichts durchkommt, dass das kleine Bakterium in das große geschlüpft ist und – wieder unfassbar – die beiden biochemisch miteinander klar gekommen sind! Keine Abstoßungsreaktionen!
Das kleine hat auch nicht im Großen vermehrt, was zu Komplikationen geführt hätte, da das große Bakterium dann zwei, dann vier und so weiter Mitbewohner gehabt hätte. Nein, die beiden blieben von nun an ein Paar und haben alles nur noch gemeinsam gemacht. Sogar das mit der gemeinsamen Teilung haben sie hinbekommen. Und der kleine Gast hatte es in sich, es war nämlich das Mitochondrium in spe, jenes Zellkraftwerk, mit dessen Power das Bakterium easy über den energetischen Graben springen ließ. Und zack ging das Leben ab wie ein Blumenstrauß. Endlich Vielzelligkeit! Spezialisierung! Pilze! Pflanzen! Insekten! Du! Ich!
Man muss kein fancy Lebewesen mit Fell und Zähnen sein, um durchzukommen
Fast vergessen: Die Frage am Anfang war ja, was denn das Lebendige vom nicht Lebendigen unterscheidet. Man hat sich auf Merkmale wie Stoffwechsel, Selbstregulierung und Fortpflanzungsfähigkeit geeinigt. Diese Einteilung ist einem Virus, das zwar keinen Stoffwechsel, aber Zellen infizieren kann, wahrscheinlich egal. Auch wenn wir diese infektiösen organischen Strukturen nicht zu den Lebewesen zählen, machen sie einen Haufen Ärger. Wenn sie ihre DNA oder RNA in unsere Zellen injizieren und unsere Zellprogramme hacken. Man muss kein fancy Lebewesen mit Nervensystem und Blutbahnen und Fell und Zähnen sein, um durchzukommen. Ein passiv umher eierndes Virus, das selbst nix kann und es nicht in die Liga der Lebewesen geschafft hat, ist da mindestens genauso erfolgreich.
Ich hoffe, demnächst noch eine Folge über die andere Seite des Lebens schreiben zu können. Über den Tod. Nicht über den endgültigen, unwiderruflichen, sondern über den Zeitraum, in dem noch Möglichkeiten bestehen, zurückzukommen. Ich hab da noch dieses Buch über die Medizin der Wiederbelebung zu liegen. Verrückt, welche Methoden die Mediziner vor allem damals ausprobiert haben …
But Mittwochs mit Micha first. Das ist der Substack, den ich zur Zeit vor allem schreibe. See you there oder sonst demnächst auch wieder hier.
Leben kann auch in hydrothermalen Pfützen an der Erdoberfläche, in Bimsstein oder anderswo entstanden sein. Hydrothermale Quellen sind aber sehr wahrscheinliche Umgebungen und auch gut untersucht.
Aus Molecular Storms von Liam Graham, Springer.