Großes Ganzes, Blick ins Hirn, furchteinflößender Abgrund: Drei Buch-Tipps.
Ein Buch über fast alles, eins mit 7,5 Lektionen zum Chef-Organ und eins über wahnsinnig gewordene Genies. 3 Empfehlungen. Initiale Reflexion inklusive.
Bevor ich auf Wunsch eines Lesers – 👋🏼
– drei tolle Bücher empfehle, muss ich kurz eine Reflexion zum Sachbuchlesen loswerden.Vielleicht ergeht es euch ähnlich wir mir: Ich lese beispielsweise “The Big Picture” von Sean Carroll und bin ganz aus dem Häuschen vor Begeisterung! Weil ich verstehe bis zum Gehtnichtmehr!
Ist doch klar, dass Teilchen auch gleichzeitig Wellen sind! Klar, dass die Entropie im Latte Macchiato geringer ist, wenn ich noch nicht umgerührt hab (wenn Milch und Kaffee noch eigene Schichten bilden). Dass es keine reine Wahrheit gibt, aber die Thesen der Wissenschaft deutlich belastbarer sind als der Glaube an geriebenes Kuhhorn bei Vollmond.
Faszination 3000! Aber ich kann mich kaum an was erinnern
Das schreibt jemand, der die totale Ahnung hat, zu Fragen der Ontologie, zur grundlegenden Struktur unserer Wirklichkeit und woraus sie zusammengesetzt ist. Und weil wir als Mensch drauf gucken geht’s auch um Epistemologie, also um Erkenntnistheorie und die Frage, wie wir zu gut begründetem Wissen über die Welt da draußen gelangen können.
450 Seiten lang tauche ich in tiefen Gewässern umher verstehe deep. Doch dann! Dann hab ich das Buch durchgelesen und blubb! bin ich wieder an der Oberfläche. Zurück bleibt das Gefühl von Faszination 3000! Aber an Fakten kann ich mich kaum erinnern.
Ich hätte so gerne eine Rezitierfunktion im Kopf. Oder zumindest eine Suchfunktion wie bei E-Books. Um den Leuten in der Mittagspause granularer erklären zu können, dass Entropie auch anstrengend sein kann. Ständig muss man dagegen ankämpfen. Andererseits: Sie wollens vielleicht auch gar nicht so genau wissen 🫠. Womit wir zur Daseinsberechtigung dieser Texte gestolpert sind: Gern auch mal flach bleiben! Was gar nicht so einfach ist. Qualitativ hochwertige Flachheit hat ihren Ursprung in deep shit. Und der steht in all diesen tollen Büchern von den Leuten mit der richtigen Ahnung. Drei stell ich jetzt vor.
1. Sean Carroll: The Big Picture. On the origins of life, meaning, and the universe itself
Es geht nicht nur um die Fundamentalitäten unseres Kosmos, um die immense Menge an objektivierbaren Erkenntnissen, die wir kleinen Menschen uns dazu ausgedacht haben und warum es sehr unwahrscheinlich ist, dass die Dickschiffe von Modellen ins wanken geraten (Relativitätstheorie, Quantenmechanik). Carroll führt auch das versöhnliche Konzept des “Poetic Naturalism” ein.
Naturalism meint, dass sich die Welt da draußen entsprechend bestimmter Naturgesetze verhält – ob wir als Menschen sie nun beobachten oder nicht. Poetic meint den Aspekt, wie wir darüber sprechen. Und, dass es ok ist, auch vereinfachend und vielleicht etwas ungenau über unseren Kosmos und alles zu sprechen. Solange die verschiedenen Arten, wie wir drüber sprechen, konsistent sind.
Ein bisschen anspruchsvoller als eine Folge Ted Lasso ist das Buch schon. Aber Carroll schreibt ruhig, gelassen und verständlich. Und am Ende bleibt zumindest das Gefühl von Faszination 3000!
(Wurde dieses Superbuch tatsächlich nicht ins Deutsche übersetzt?!)
2. Lisa Feldman Barrett: Siebeneinhalb Lektionen über das Gehirn
So kurz, so gut. Und so gut, weil so kurz. Auf nur 200 Seiten reduziert Feldman Barrett die groteske Komplexität unseres Hirns. Und erklärt, wie daraus Bewusstsein und Gefühle hervorgehen. Nicht zu vergessen die große Warum-Frage. Spoiler: Unser Körper ist am eigenen Überleben interessiert. Und wer sind wir, wenn nicht unser Körper.
Und der gibt den Ton an. Feldman Barrett macht klar, dass wir uns nicht zu viel einbilden sollten auf das Gefühl, mit unserem ach nee watt schlauem Denken alles im Griff zu haben. Denn, so die erste halbe Lektion: „Your brain is not for thinking”.
Kurze Doppelanekdote zur Frage, wer, wenns hart auf hart kommt, die Kontrolle hat: Ich komm so mit dem Auto von der Straße ab und lande kopfüber im Graben. Mein Gehirn so: Wollen den Bengel lieber nicht überfordern mit der Situation – die Windschutzscheibe liegt irgendwo da vorn auf dem Acker, die Bäume links und rechts haben wir knapp verfehlt, alles steht kopf. Zeit für das Notfall-Ablenkungsprogramm. Ich als mich selbst wahrnehmendes ich derweil: Nachdem ich die letzten zwei Sekunden in Zeitlupe und in einem nie zuvor gekannten Detailreichtum erlebt habe (wie bei Marvels Flash, sehr abgefahren!) hänge ich also kopfüber im Gurt und schiebe eine Kassette (damals …) nach der anderen in den Player. Komisch, Radio geht auch nicht, was ist denn hier los? Schockzustand ist los. Gehirn hat übernommen. Ich fühl mich ganz entspannt und versuchs noch einmal mit der Lautstärke.
Noch besser: Vor mir auf der Autobahn kommt ein Golf ins Schleudern, kippt aufs Dach und schliddert auf jenem noch ein paar hundert Meter. Ich halt an, renn hin, und das Fenster der Fahrerin geht ein Stück runter. Es schiebt sich eine Zigarette durch den Spalt, und ich höre die Frau fragen: „Hamse mal Feuer?” Klar doch, kleine Ablenkungszigarette ist immer gut.
Jedenfalls: Tolles kompaktes Buch über unser effizienzgetriebenes Cheforgan, das andauernd versucht vorherzusagen, was passieren könnte. Und das auch deshalb so leistungsfähig ist, weil es unseren Körper in all seiner Komplexität am laufen halten muss. Temperatur muss stimmen, Salz- und Sauerstoffgehalt, Opioid-, Insulin-, Glukose und Cortisol-Level und, und, und.
3. Benjamin Labatut: Das blinde Licht.

Ich fragte mich damals, ob ich den Film Antichrist von Lars von Trier gucken sollte. Jemand meinte: Kannst Du machen. Aber sei Dir sicher: Diese eine Szene wirst Du nie wieder aus dem Kopf bekommen. Ich hab den Film bis heute nicht gesehen (weiß aber mittlerweile, dass die „Abschneide-Szene” gemeint war ). In Das blinde Licht gibt es auch solch eine Szene. So freakig! Und doch vorstellbar.
Denn Genie und Wahnsinn liegen dicht beieinander. Wie das eine zum anderen führen kann erzählt gnadenlos gut entlang der Lebensgeschichten und Entdeckungen von Heisenberg, Schrödinger, Haber und Grothendieck (einer der bedeutendsten Mathematiker des 20. Jahrhunderts).
Dieses Buch lässt tief Blicken in die Abgründe der Genies (deshalb auch zur eigenen Sicherheit: flach bleiben!) Genies, die ob der Tragweiter ihrer Entdeckungen an sich verzweifeln. Die die Grenzen des menschlichen Verstandes ausloten. Sollte man eigentlich direkt vier Filmchen draus machen – die Storys sind um einiges intensiver als Oppenheimer.
Enjoy!
Und gerne auch
Äh, wie meinen?! Alles auswählen und dann geniallokal?! 🫠
Aaww! Strg+A > geniallokal > Strg+V