Keine Zeit? Komisch, es gibt doch so viele davon!
Sie vergeht mal schneller, mal langsamer. Es gibt mehrere ihrer Art. Und sie ist weit mehr als nur eine Wochenzeitung: Die Zeit.
Über Zeit nachzudenken, ähnelt der Nachdenkerei über Bewusstsein, über das Wesen der Materie oder darüber, wie unser Universum funktioniert: Es ist bringt uns keinen Deut weiter, wenn der Bus nicht kommt, wenn wir postalkoholisch depressiv im Bett liegen oder wenn wir zum Zahnarzt müssen. Dem Wesen dieser Dinge auf den Grund zu gehen, ist pure, nutzlose Faszination. Sie zu verstehen, versetzt zumindest mich in ein geradezu rauschhaftes Gefühl – ganz ohne Kater!
Die Zeit zu verstehen, ist nun besonders kontraintuitiv. In unserer Wahrnehmung ist sie eine große Selbstverständlichkeit. Zwar nehmen wir sie unterschiedlich wahr: Also Kind scheint es nur den Moment zu geben, intensiv, voller Emotion und bedeutsamer als jede Ratio der spaßbremsenden Eltern. Später fängt man an, rückwärts zu zählen und fragt sich, wie viel Zeit noch bleibt, bis das Licht ausgeht.
Sie ist immer da: Wenn die Sonne aufgeht, wenn der Vater stirbt, wenn sie unerbittlich vergeht, obwohl man lieber noch ein bisschen bleiben würde. Doch wenn man Physiker fragt, gibt es sie gar nicht, die Zeit. Zumindest nicht die eine.
Es gibt unzählige Zeiten, und keine ist richtiger als die andere. „Für jeden Punkt im Universum gibt es eine Zeit“, schreibt Carlo Rovelli in seinem kleinen, warmen Buch „Die Ordnung der Zeit“.
Es geht dabei um die Frage, was die Zeit objektiv betrachtet ist. In der Physik ist sie t, und sie ist ein fundamentaler Teil unserer Realität, der vierdimensionalen Raumzeit. Wir geben sie aber immer nur als einen Abstand zwischen Ereignissen an. So ist eine Sekunde der zeitliche Abstand, den der Sekundenzeiger auf dem Weg von 12 auf 13 zurücklegt. Oder etwas spezieller ausgedrückt: „Seit 1967 ist eine Sekunde das 9.192.631.770-fache der Periodendauer der Strahlung, die dem Übergang zwischen den beiden Hyperfeinstrukturniveaus des Grundzustandes von Atomen des Nuklids 133Cäsium entspricht.“ Klingt verrückt, ähnelt aber dem Pendel einer Standuhr. Und ist unglaublich viel präziser. Ich hab von Uhren gehört, die seit dem Urknall vor 13,8 Milliarden Jahren bis auf ein paar Nanosekunden präzise ticken. Hab mir kurz die Zeit genommen, das zu recherchieren:
„Die genaueste Uhr der Welt konstruierten vor kurzem US-Wissenschaftler an der University of Colorado in Boulder in den USA. Laut Aussage der Physiker geht die Uhr erst nach einem Zeitraum von 100 Billionen Jahren um eine Sekunde falsch. Mittelpunkt der neuen »Superuhr« ist ein einzelnes Quecksilber-Ion, das rund eine Billiarde Mal pro Sekunde schwingt. Auf Grund dieser viel höheren Frequenz im Vergleich zu der Cäsium-Strahlung ist die Zeitmessung so um einiges genauer.“ (Wissen.de)
Doch zurück zur Zeit an sich: Wie schnell oder langsam sie vergeht, hängt von zweierlei ab:
Gravitation: Masse bremst den Zeitablauf in ihrer Nähe. Jemand, der am Meer wohn, altert schneller als jemand, der in den Bergen wohnt. Weil der in den Bergen weiter vom Schwerpunkt der Erde entfernt ist. Es geht hier um die Relation der beiden. Absolut betrachtet hat man in den Bergen nicht mehr Zeit. Rovelli bringt eine verrückte Perspektive ins Spiel: „Wenn Dinge fallen, so wegen dieser Verlangsamung der Zeit.“ Alles strebt dorthin , wo die Zeit langsam vergeht. Klingt irgendwie nach der guten alten Gravitation. Und wird die richtig groß, vergeht die Zeit sehr, sehr langsam: Etwa, wenn etwas in ein Schwarzes Loch fällt. Von außen betrachtet wird die Person langgezogen, fällt aber nie wirklich rein. Vertrackte Situation auch im Versicherungsfall: In einem Buch von Cixins Lius Trisolaris-Triologie bekamen die Nachkommen eines Astronauten, der in ein Schwarzes Loch gefallen war, die Lebensversicherung nicht ausgezahlt. Die Versicherung argumentierte: Man sehe den Astronauten ja noch, wie er zwar sehr lang, aber im funktionsfähigen Raumanzug vor dem Loch verweile.
Geschwindigkeit: Für jemand, der sich bewegt, vergeht die Zeit langsamer. Auf ihrer*seiner Uhr ist weniger Zeit vergangen, als bei jemand, der sich nicht bewegt hat. Einstein fiel damals auf, dass die Maxwell-Gleichungen (Schwergewichte, die Elektrizität und Magnetismus beschreiben) nicht mehr gelten, wenn man sich mit hoher Geschwindigkeit fortbewegt – es sei denn, man passt t an. Bei mir ist einst der Groschen gefallen, wie es denn sein kann, dass Zeit in Bewegung langsamer vergeht, als ich eine Folge Physikgeplänkel hörte (sympathischer, nerdiger Podcast). Flach ausgedrückt: Je mehr Raum man verbraucht (indem man sich bewegt), desto weniger Zeit bleibt übrig. Denn die Summe aus beiden muss gleich bleiben. Jedenfalls bringt es nichts, rauszuziehen, und täglich mit 200 Sachen über die Autobahn zur Arbeit in die Stadt zu ballern. Die Eigenzeit bleibt gleich, nur in Relation zu jemand, der ständig Homeoffice macht, vergehen bei dem*der Raser*in ein paar Nanosekunden weniger.
Viele Zeiten, alles relativ, da lässt sich mit Fug und Recht behaupten: „Jetzt“ ist zwar praktisch, wenn es darum geht, wann das Essen fertig ist. Und es funktioniert auch bei solch Pillepalle-Entfernungen wie denen in unserem Leben. Aber eigentlich ist „jetzt“ bedeutungslos. Sich zu fragen, was Tante Ursula wohl jetzt gerade auf dem gut 4 Lichtjahre entfernten Exoplaneten Proxima Centauri B macht, ist so, als würde man in Venedig fragen: Was geht ab, hier in Peking? Da stimmt was mit dem „hier“ nicht. Falscher Bezug.
Jedenfalls könnte man Tante Ursula anrufen und fragen: „Ursi, was geht ab auf Proxima Centauri B?“ Und etwa vier Jahre später würde sie antworten: „A: Mir ist gestern ein Reh vors Auto gelaufen. Und B ist ja immer, haha!“ Dauert halt etwas, ihre Antwort. Weil ja nichts schneller ist als Licht.
Unsere Gegenwart ist „wie eine Blase, die uns relativ eng umgibt“, schreibt Rovelli. Auf der Erde dauert sie wenige Zehntelsekunden. Unser gemeinsamer Zeitraum zwischen Vergangenheit und Zukunft mit Proxima Centauri B hingegen dauert 8 Jahre – eine deutlich weiter ausgedehnte Gegenwart. Ein sehr großes Jetzt.
Vor etwa acht Millisekunden sind wir nun am Ende dieser Folge angelangt. So lange braucht unser Hirn etwa, um aus gegenwärtigen Sinneseindrücken von da draußen eine stimmige Wahrnehmung unseres eigenen jetzt zusammenzubauen. Oder heißt es im Genitiv des jetztes?
Für die nächste Folge bleibt das Thema der Richtung: Wieso gibt es einen Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft? Wieso kommt erst die Ursache, dann die Wirkung? Wieso unterscheiden sich Erinnerung und Hoffnung? In den Grundgesetzen, welche die Mechanismen der Welt beschreiben, kommt all das nämlich überhaupt nicht vor, schreibt Rovelli. Alles reversibel, oder was?
Nicht ganz. Denn wie sagte das Universum neulich im Interview? „Egal ob supermassereiche Schwarze Löcher kollidieren oder ganze Galaxien ineinander rauschen: Ich kann mich stets drauf verlassen, dass …”
Also, nicht bis letzten Sonntag, sondern bis zum nächsten 👋🏼
"des Jetzt" war mehr als richtig. Okay, hab nachgeguckt.