Von der Sondermülldeponie in die Gonadenhöhle: die verrückte Reise ganz besonderer Zellen
Ohne sie könnten wir das Leben nicht genießen. Ohne diese 40 Zellen gäb's uns und unsere nächsten nicht. Sie schlagen sich wacker, wenn sie aus der hintersten Ecke des Embryos in seine Mitte wandern.
Die allermeisten von uns haben sie: Gonaden. Keimdrüsen. Jene, die uns endokrin mit Östrogenen, Gestagenen und Androgenen (v. a. Testosteron) versorgen. Und die exokrin Eizellen produzieren und Samenzellen. Die allseits als Hoden und Eierstöcke bekannt, aber ein schüchternes Thema sind.
Kaum bekannt ist die verrückte Reise der Stammzellen, die im menschlichen Embryo aus dessen Müllsack in die heilige Gonadenhöhle wandern, damit dort XX oder XY Gonaden wachsen können.

Nebenbei: Gonaden ist ein Wort, das sich gut reinen Klang verwandeln lässt. Man muss es nur ganz oft hintereinander aussprechen, schon wird es zum bedeutungslosen Klang. Gonaden, Gonaden, Gonaden, Gonaden, Gonaden, Gonaden … Neuronal verhält sich das Hirn dabei, als hätte es einen Schaden1. Schaden, Gonaden, Gonadenschaden, Schaden, Schaden, Gonaden, Schadengonaden, Gonaden, …
Doch zurück zur Geschichte. Nennen wir sie Die große Wanderung. Sie fängt ganz am Anfang an. An Deinem und meinem. Denn erst vor etwa drei Wochen trafen sich zwei Zellen. Die eine kam aus der Gonade des einen, die andere aus der Gonade eines anderen Menschen: Ein Spermium befruchtete eine Eizelle. Jetzt, drei Wochen und viele Zellteilungen später, haben sich die beiden zu einem Embryo entwickelt, der aussieht wie eine Kaulquappe.
Das Verdauungssystem ist noch nicht fertig, auch einen Anus sucht man vergeblich. Doch wohin mit dem molekularen Müll? Mit dem Abfall, der sich nicht wiederverwertet lässt? Der auf der organischen Großbaustelle nur im Weg steht? Ab in den Schwanz damit!
Der Embryo hat ein kleines Schwänzchen, die Allantois. In diesem Hinterland außerhalb des Embryos sammelt sich Müll und Pipi, auch Gase mit Mama werden hier getauscht. Eine ungemütliche, lebensfeindliche Gegend. Wie die, in der sich Harrison Ford in Blade Runner 2049 versteckt.
Allantois, Allantois, Allantois, Allantois, Allantois, Allantois, Allantois: Bei semantischer Sättigung2 schwächt die andauernde Wiederholung der Laute die Signalübertragung jener Neuronen, die fürs Erkennen der Bedeutung von Wörtern zuständig sind. Vor lauter Lauten keine Bedeutung. Atlantis?
Ausgerechnet in der zugemüllten Allantois leben ein paar ganz besondere Zellen: primordiale Keimzellen. Besondere Stammzellen3, um die 40 Stück. Sie sind es, die auf die große Wanderung gehen. Nur mit diesen Zellen kann der Drei-Wochen-Embryo Gonaden entwickeln. Mit denen er zum Baby heranwächst, geboren wird, weiter wächst zum Kind, Pubertierenden und Erwachsenen und sich viele Jahre später fortpflanzen und allerlei andere Dinge tun kann.
Ein bisschen Ursprung des Lebens sind diese Zellen schon. All die anderen Zellen drumherum, Herz und Niere, Hirn und Harnblase, der ganze Körper – sie sorgen dafür, dass der große Plan dieser Stammzellen aufgeht4.
Zuvor müssen sie nur noch aus der Allantois in die Mitte des Embryos gelangen. Von dort ertönt die molekulare Mitteilung: „Primordiale Keimzellen bitte zur Gonadenhöle, PK bitte auf G!“ Und schon geht’s los. Ein Bus fährt hier nicht, auch Beine gibts keine. Die Zellen stülpen Fortsätze aus, mit denen sie sich mühsam von einem Molekül zum nächsten vorwärts hangeln. Niedlich: Sie tun das quasi Händchen haltend. Zellmembran an Zellmembran bilden sie eine Reihe und wandern gemeinsam Richtung Embryo.
Doch dann stoßen sie auf die massive Wand des Embryos. Für unsere kleinen Zellen muss sie unüberwindbar und undurchlässig wirken wie die Wand an der nördlichen Grenze der sieben Königslande.
Doch es führt kein Weg dran vorbei. Auch keiner an Folge 2.
Wir sehen uns nächsten Sonntag in der Gonadenhöhle!
Schreibt Lisa Feldman Barrett in ihrem Buch “How emotions are made”.
Wikipedia https://de.wikipedia.org/wiki/Semantische_Sättigung und Spektrum der Wissenschaft: https://www.spektrum.de/magazin/warum-klingen-woerter-komisch-wenn-man-sie-oft-wiederholt/1479359
Stammzellen sind Alleskönner. Sie sind pluripotent und können sich zu Leberzellen, Neuronen, Hautzellen oder andere der ca. 300 verschiedenen Zelltypen entwickeln, aus denen wir gemacht sind.
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