Wie das Wort, so das Gefühl!
These: Nur wer das Wort Schadenfreude kennt, kann sie auch wirklich fühlen. Bedeutet: Neue Wörter führen zu neuen Gefühlen!? Probieren wir es aus: Mit Mödesse widazhad und jeong.
In der letzten Folge ging es darum, wie Konzepte uns helfen, mit Komplexität zu meistern. Mit Hilfe von Konzepten kann unser Körper effizient Schlüsse ziehen aus den Daten über seinen eigenen Zustand (Interozeption) und denen, die er per Sinneseindruck von der Außenwelt erhält. Um klar zu kommen in der verrückten Welt da draußen.
In der Idee mit den Konzepten schlummert eine ordentliche Portion Konstruktivismus. So sagt auch Lisa Feldman Barrett, dass unsere Wahrnehmung eine subjektive Konstruktion ist, die je nach Datenlage variiert: die Welt, wie sie uns gefällt. Bzw. wie sie den Vorhersagen unseres Gehirns am besten entspricht.
Was für Sex, Drogen, Rock ’n’ Roll aber auch Salz und Pfeffer und fast alles gilt, trifft auch auf Konzepte zu: Die Dosis macht das Gift (Paracelsus, 1493–1541). Wir brauchen Konzepte, um die Welt verstehen zu können, bei zu viel Reduktion wird jedoch die Auflösung schlechter, und wir können Feinheiten nicht mehr wahrnehmen.
Für unsere Gefühle bedeutet das: Nur wenn wir ausreichend emotionale Konzepte1 kennen, können wir Gefühle auch mit der entsprechenden emotionalen Granularität wahrnehmen.
Ohne Konzept kein Gefühl? Nicht nur das. Lisa ist sogar der Meinung: Ohne Wort kein Gefühl! Sie meint damit, dass wir Konzepte, die für die wir Worte haben, besonders effizient und bzw. überhaupt erst wahrnehmen können. Eines ihrer vielen Beispiele: Als dieser eine Blödmann aus ihrem Labor, dieser eingebildete Fatzke!, der immer nur an sich und seine Karriere denkt, als dieser Kerl mit geschwollener Brust erzählte, er würde sich nicht wundern, wenn er den Medizin-Nobelpreis bekäme, er ihn aber nicht bekam, da fühlte sich Lisa vieldeutig. Sie freute sich über sein Scheitern, schämte sich für diese Freude, fand aber trotzdem, dass es ihm recht geschehe, obwohl sie auch ein bisschen Mitleid mit ihm hatte, und ein bisschen Neid empfand sie auch.
Zum Glück musste Lisa ihren Kolleg*innen im Lab diese komplexe Gefühlslage nicht so umständlich erklären. Sie nutzte einfach das deutsche Wort Schadenfreude, und alle wussten sofort, was los war. (Das Konzept und Wort Schadenfreude bereichert den US-amerikanischen Wortschatz seit Mitte des 19. Jahrhunderts.)
Hätten wir keine Konzepte und Wörter für unsere Gefühlslagen, würden wir sie nur als grobes Rauschen wahrnehmen, wohl irgendwo in den vier Dimensionen unserer Affekte (einer Vorstufe der Gefühle): angenehm oder unangenehm, aktivierend oder ermüdend. (Wahrscheinlich nehmen höher entwickelte Tiere ihren körperlichen Zustand bzw. ihre Gefühle als Mischung solcher Affekte wahr). Doch wenn wir ein Konzept und Wort für ein komplexes Datenmuster haben, das uns da aus unserem Inneren erreicht und sich mit den sensorischen Daten von außen mischt, nehmen wir es konkreter wahr. Man kann beispielsweise auf viele Arten glücklich sein. Und wenn wir im Deutschen das koreanische Word jeong nutzen würden, das das Glück der Verbundenheit mit einem engen Freund beschreibt, wäre das eine Fünf-Buchstaben-Effizienz und Genauigkeit, die jede Beschreibung übertrifft.
Preciseness leads to efficiency; this is a biological payoff of higher emotional granularity.
Aber wie schon oben erwähnt: Gäbe es für alles ein Wort, wären es so viele, dass vor lauter Granularität die gute alte Komplexität nicht reduziert wäre und unsere Kapazitäten sprengen würde. Denn irgendwie ist ja jeder Moment ein Gefühl. Wenn nicht gar das ganze Leben, das einem als Gefühl durchs Bewusstsein fließt, mal flach, mal tief, mal warm, mal kalt, laut oder leise, rauschend oder plätschernd, bunt oder dunkel und so weiter und so fort in all seinen Facetten. Rau oder glitschig auch.
Eine Kleinigkeit noch, bevor endlich Douglas Adams und Clemens Setz ihren Auftritt haben: Wir konstruieren uns unsere Realität, auch die emotionale, im Miteinander. In dieser sozialen Realität tauschen wir Konzepte aus, erfinden neue, kombinieren sie und formen so eine collective intentionality. Der Sprache sei Dank. Aber Gefühle überhaupt echt, wenn wir sie nur konstruieren?
Instead of asking, "Are emotions real?" the better question is, "How do emotions become real?" Ideally, the answer lies in building a bridge from the perceiver-independent biology of the brain and body, like interoception, to the everyday folk concepts that we live our lives around, like "Fear" and "Happiness."
Die drei wichtigsten Zutaten für konstruierte Emotionen sind demnach:
1. Interozeption
2. Mentale Konzepte von Gefühlen wie Ärger, Angst etc.
3. Eine soziale Realität, in der wir die Konzepte teilen, abstimmen und weitergeben (z. B. an kleine Pupsis)
Wenn es also so wäre, dass wir erst Konzepte und Wörter brauchen, um entsprechende Gefühle wirklich wahrnehmen zu können, dann sollten wir handeln! Und all die unbenannten Gefühle und Situationen, die wir haben bzw. in denen wir uns befinden, Namen geben! Dann müsste unsere Wahrnehmung der Welt bunter und facettenreicher werden. Probieren wir es aus:
Angefangen mit Douglas Adams, der mit dem Buch The (Deeper) Meaning of Liff ein konzeptionelles Meisterwerk geschaffen hat (1983). Darin beschreibt er mit Ortsnamen Konzepte, für die es bislang keine Begriffe gibt. Sven Böttcher übertrug die Idee mit Der tiefere Sinn des Labenz ins Deutsche. Damals war mir nicht klar, was das Buch mit meinem Hirn machen würde. Aber ich hatte bei jedem Begriff und jedem Konzept, mit dem Adams und Böttcher die Welt bereicherten, ein Gefühl, für das mir leider das Wort bzw. Konzept fehlt. Ich fühlte: „Jaaaa, lustig, die Situation kenn ich, genau!“ Und in meiner sozialen Realität mit Rico Reinhold haben wir uns auch herrlich amüsiert, wie passend der Klang der Begriffe war. Drei Beispiele aus der Welt der Gefühle: (Reminder: Die Worte sind Ortsnamen deutscher Städte!):
Mödesse (Adj.): Aus dem Französischen: Die Anordnung der Möbel in der eigenen Wohnung oder die Möbel selbst satt habend.
Plön (Adj.): Körperlich am Ende, aber trotzdem hochzufrieden, weil etwas wie geplant verlaufen ist; zum Beispiel nach sportlicher oder sexueller Betätigung oder nach stundenlanger Gartenarbeit, die man dem Garten ausnahmsweise ansieht.
Lausitz, das: Unbehagliches Gefühl, das sich einstellt, wenn man auf einem Stuhl oder einer Klobrille Platz nimmt, der bzw. die noch ein bisschen warm vom Hintern desjenigen ist, der vor einem darauf gesessen hat.

Clemens Setz erwähnt in seinem Buch Die Bienen und das Unsichtbare auf Seite 153 die in den 80ern von Suzette Haden Elgin erfundene Sprache Láadan, „deren erklärter Daseinszweck darin besteht, besser zu strukturieren und auszudrücken, was Frauen empfinden.“ Elgin war überzeugt von der Auffassung Frauen = Gefühl, Männer = Verstand. Zwar ist das ein unerhört flache und haltlose Dichotomie, aber sie trug immerhin dazu bei, dass Elgin mit Láadan einige tolle Neologismen erfunden hat, die als Konzepte unsere emotionale Granularität verfeinern können.
Ich selbst kenne jemand, die widazhad war: hochschwanger, aber langsam davon genervt und sich nach dem Ende der Schwangerschaft sehnend.
Aus der traurigen Ecke stammt dooledosh: der Schmerz oder Verlust, der erleichternd wirkt, wenn er eintritt, da er die quälende Wartezeit beendet.
bala ist die sinnvolle, alles andere als zwecklose Wut auf jemand Bestimmten, mit gutem Grund, während
bila die sinnvolle, alles andere als zwecklose Wut auf niemand Bestimmten, ohne Grund ist
Wie schon in Der tiefere Sinn des Labenz sind auch die Konzepte hinter den láadanschen Wörtern sofort nachvollziehbar: „Das Gefühl kenn ich!“. Doch richtig kribbeln tuts erst, wenn die dritte Zutat, die soziale Realität, ins Spiel kommt und wir die Konzepte miteinander teilen. Wenn wir die Worte benutzen und unsere Wahrnehmung gegenseitig damit anreichern. Was passieren muss, damit sich ein neues Wort verbreitet? Sekundärbehaarung, Pubertät und cooler sein wollen als die Erwachsenen sind gute Voraussetzungen und dazu ordentlich Social Media. Sagt auch der NDR: „Wenig überraschend, hat vor allem Social Media, allen voran TikTok, den größten Einfluss auf die Wortwahl junger Menschen.“2 Die es mit ihrer Jugendsprache immer wieder schafft, tolle neue Wortkonzepte zu kreieren. Ich weiß noch, vor ein paar Jahren war in Hamburg „Lauch“ eine ernstzunehmende Beleidigung. In diesem Jahr haben die jungen Leute wohl auch gern „Nein Pascal, ich denke nicht“ gesagt, um einer Aussage zu widersprechen. Wunderbar!
Ich erinner mich noch an meine Schulzeit. Wir sagten eine Zeitlang immer „Bist Du Harry, oder was?!” oder „Voll Harry“. Das leitete sich von einem Harald ab, der in unserem Jahrgang war, aber (hoffentlich) nichts von unserer Fremdnutzung seines Namens mitbekommen hat. Wir drückten damit Abneigung aus, so in die Richtung „bekloppt“, „blöd“.
Ich hab mal eine zeitlang versucht, „sbeg“ (sprich: esbeg) zu etablieren. Als Gegenvorschlag zum und Karikatur des Business Bullshit „asap“. Ohne Erfolg.
Um so gespannter bin ich, ob wir es schaffen, in der nächsten Folge neue Wortkonzepte zu erfinden. Für welche unbeschriebenen Konzepte brauchen wir dringend Wörter? Und wir können die lauten? Ich werde ein paar Vorschläge mitbringen und bin gespannt eure. Fangt schonmal an, zu überlegen! 🫠
Lisa Feldman Barrett meint, dass auch Schmerzen Konzepte sind, die wir subjektiv konstruieren. Zwar braucht es Nozizeption, also die Wahrnehmung eines Schmerzreizes über entsprechende Sinneszellen (welche die meisten Wirbeltiere und viele Wirbellose haben). Wir wir den Schmerz wahrnehmen – wie unangenehm zum Beispiel – ist hingegen unterschiedlich und beeinflussbar. Kann ich bestätigen: In einem Schweigeseminar, in dem man eine Stunde sitzen sollte, ohne sich zu bewegen („Sitting with strong Determination“), war auf den Schmerz verlass. Er kroch in den Hintern in einen Oberschenkel oder entstand im Rücken. Doch wir lernten, den Schmerz wertfrei zu beobachten. Und es hat geklappt: Ich konnte den Schmerz mental betrachten, ohne ihn als unangenehm zu empfinden. Das bedurfte einiger Konzentration und klappt nicht, wenn ich mir den Zeh am Stuhlbein stoße.
https://www.ndr.de/kultur/buch/Aura-ist-Jugendwort-des-Jahres-2024,jugendwort242.html
Ich find ja, das Gefühl am letzten Tag der Sommerferien bräuchte ein eigenes Wort. Schule ist schon ne Weile her bei mir, trotzdem hab ich dieses Gefühl immer noch manchmal.
Apropos Lisa Feldman Barrett, danke für den Tipp! Lese gerade die siebeneinhalb Lektionen ...