Ankunft in der Gonadenhöhle: Die Reise der Primordialen Teil 2
Im Embryo geht es zu wie im Affenstall. Doch unsere Zellen widerstehen jeder Versuchung und folgen weiter dem Ruf der Gonaden. Dort angekommen, ist ihr Schicksal besiegelt.
Nachdem unsere primordialen Stammzellen dem Ruf ins Reich der Mitte gefolgt und aus dem Müllsack des Embryos in seine Richtung gekrochen sind, stehen sie nun da wie der Ochs vorm Tor.
Die Außenwand des Embryos scheint unüberwindbar: ein molekularer Schutzwall mit 200 Millionen Jahren Säugetier-Evolutions-Erfahrung. Der weiß ganz genau, wer rein darf und wer nicht. Also biochemieren sich die primordialen Keimzellen einfach durch die Embryowand. Die Masse teilt sich wie bei einem steilen Anstieg vor Jonas Vingegaard bei der Tour de France.
Im Embryo herrscht Teilungs-Chaos. Überall teilen sich Stammzellen und bilden Strukturen, Organe, Nerven- und andere Systeme. Blutkörperchen hier, Muskelzellen da. Es wimmelt nur so von molekularen Mitteilungen: eine Kakofonie von Imperativen, die sich die Zellen um die Rezeptoren hauen:
„Komm, entwickle Dich zu einer Leberzelle!“, meint ein Botenstoff.
Ein anderer frohlockt: „Werd lieber eine Hautzelle, da siehste was von der Welt da draußen! So in 9 Monaten.“
„Mach einen auf Nervenzelle, dann weißt Du immer Bescheid!“, ist eine weitere Möglichkeit, der sich die primordialen Stammzellen hingeben können. Aber nicht dürfen. Sie müssen widerstehen. Sie dürfen nur die einen werden: Gonadenzellen. Alle anderen Stammzellen sind noch Zellen der Möglichkeiten. Sie können zu jedem der ca. 300 Zelltypen werden, aus denen wir bestehen.
Die Primordialen wandern als Perlenschnur aufgereiht weiter zur Mitte des Embryos. Drei Tage, sechs Tage, neun Tage. Dort entlang, wo später das Rückenmark verläuft. Wenn sie es nicht schaffen, schafft es auch der Embryo nicht.

Doch dann taucht dieser Berg am embryonalen Horizont auf: Die Genitalleiste. Sie sendet ein immer stärker werdendes und für unsere Primordialen unwiderstehliches Signal aus: „Kommt, ihr Lieben, kommt zu mir!“ Kurz bevor sie die Leiste erreichen, teilt sich ihr Weg: Die einen gehen links entlang, die anderen rechts. Die Wand der Leiste heißt unsere Zellen auf beiden Seiten biochemisch willkommen: Sie nimmt die Primordialen auf und schleust sie durch sich hindurch.
Nach 14-tägiger Wanderung sind sie sind am Ziel. Angekommen in der embryonalen Gonade, werden die Primordialen sogleich von vielen freundlichen Gonadenhöhlenzellen umsorgt. Diese Zellen besiegeln ihr Schicksal. Sie entscheiden, was aus ihnen wird: Spermium oder Eizelle? Kommt, flach ausgedrückt, drauf an, ob der Embryo XX oder XY ist.
Spermien bilden sich nur wenige, und die lagert unser Embryo bis zur Pubertät ein. Eizellen aber drehen völlig frei und teilen sich wie verrückt. Aus 40 werden hundert, dann 1000, 10.000, 100.000 und nach etwa 5 Monaten hat der Embryo alle, die er für den Rest seines Lebens braucht: 6 bis 10 Millionen Eizellen bis unter die Decke der Gonadenhöhle gestapelt.
Mit einer Tochter schwanger zu sein bedeutet also, zu einem gewissen Teil auch bereits mit seinem Enkelkind schwanger zu sein. Zumindest mit der massenhaften Möglichkeit von Enkelkindern. Hier schlummert das Potential der Unendlichkeit. Denn kombiniert mit einer Zelle des anderen Geschlechts und vereint zur Zygote, entstehen schon bald wieder diese Zellen, die dann kombiniert mit einer Zelle des anderen Geschlechts als Zygote diese Zellen bilden, die das Potential haben, weitere Zellen mit diesem Potential zu bilden. And on and on it goes.
Der Mensch als Körper der Keimzellen, über den sie sich vermehren?1 Und wenn schon. Der Job, genannt Leben, macht Laune. Hinzu kommt, dass bei einigen Körpern der Plan der Keimzellen nicht aufgeht: Nicht bei allen Menschen steht die Fortpflanzung so weit oben auf der To Do Liste wie bei Kaninchen.
Die 40 Zellen, die einst in der Allantois, der Sondermülldeponie des Embryo, auf dessen Startschuss warteten, haben Die große Wanderung nun erfolgreich überstanden. Leben kann weitergehen. Gonade ist Leben! würde Dani Rojas sagen, wenn Stammzellen das Thema bei Ted Lasso wären.
Und jetzt springt noch die Katze aus dem Sack: Diese Geschichte ist, ich würde nicht sagen geklaut, aber zumindest nacherzählt. Sie ist meine schriftliche Version dieser einen grandiosen Folge des grandiosen Wissenschaftspodcasts NPR Radiolab.
Wer mal 30 Minuten Zeit hat, sollte sie sich unbedingt anhören: eine grandios vertonte und wunderbar unterhaltsam anthropomorphisierende, also vermenschlichende, Erzählung aus dem Leben.
Ein Huhn als Lebewesen, mit dem ein Ei dafür sorgt, dass neue Eier produziert werden?