Ganz neue Gefühle!
Wir werfen einen Blick ins Dictionary of Obscure Sorrows. Und erfinden selbst neue Wörter für Gefühle. Etwa für das Glück der Erschöpfung und der reinen Körperlichkeit. Jetzt mitmachen!
Nachdem es in der letzten Folge um neue Wortschöpfungen ging, die fast schon bewusstseinserweiternd wirken, soll es heute, in der letzte Folge dieser Gefühls-Trilogie, um eigene Kreationen gehen – zu denen ihr gern beitragen könnt, das Kommentarfeld ist kinderleicht zu bedienen 🙃.
Zuvor lohnt sich noch ein Blick auf den super Tipp von Leserin Friederike: The Dictionary of Obscure Sorrows. Ähnlich wie in Der tiefere Sinn des Labenz aus der letzten Folge geht es um neue Worte, die wir gut gebrauchen könnten, aber bislang nicht hatten. Zwei Unterschiede zum Labenz: Die neuen Worte sind freie Kreationen bzw. Kombinationen aus Wortteilen verschiedener Sprachen, keine Ortsnamen. Und es geht fast ausschließlich um unser Thema: Gefühle.
The books mission is to shine a light on the fundamental strangeness of being a human being—all the aches, demons, vibes, joys, and urges that are humming in the background of everyday life.
Das Buch ist eine deepes Rabbithole, aus dem ich drei Perlen mitgebracht habe:
Zunächst zum Gefühl der Überdigitalisierung: Als ich neulich im Dunkeln mit dem Fahrrad nach Hause fuhr, schmerzten meine Augen. Auf der Rückseite des Helms vom Typ vor mir flimmerte ein Regenbogen über ein etwa DIN A5 Display1. Some serious display auf der Rückseite eines Fahrradhelms, der mich mit digitaler Nullinformation beschmutzte, und das auch noch in schlechter Auflösung. Die Utopie, dass bald alle Fahrradhelme wie die Las Vegas Sphere aufmerksamkeitshaschend leuchten, deprimierte mich. Ich fühlte mich:
ironsick (adj.): feeling hollowed out by excessive exposure to modern technology, which is so fast and stimulating that it makes everything else feel drab and messy by comparison—as if you’d unwittingly developed a psychological allergy to chaos, which leaves you feeling punchy and lonely and numb, even though your life might be as peaceful and predictable as it’s ever been.
(From iron sick, a nautical term for when an old ship’s iron nails become rusted out, allowing seepage of seawater through the wooden hull. Wie so ein Schiff möchte man sich nicht fühlen. Kommt jemand und dichtet die Löcher mit frischen Nägeln wieder ab?)
Eins hilft immer gegen digital overload: Ins Feuer glotzen. Ich kenne keine Menschen, die nicht gern in ein Lagerfeuer gucken, dem Knistern zu hören, die orange-gelben Wellen auf der Glut beobachten und denk Funken folgen. Zwar kenne ich kein Gen oder sonst einen körperlichen Grund für diese weit verbreitete Feuerphilie, aber es liegt schon nahe, dass wir die Überlebenswichtigkeit des Feuers irgendwie inkorporiert haben. Homo erectus hat schon vor einer Million Jahren gekokelt. Wir gucken heute noch gern ins Feuer, wie in einer
Funkenzwangsvorstellung: the primal trance of watching a campfire in the dark.
Mit Blick auf unser Universum, um das sich deep shit ganz flach auch sehr gerne kümmert (hier die besten Folgen), gibt es noch dieses Wort, für das es im deutschen eigentlich schon eines gibt: kosmische Nichtigkeit. Die Wahrheit, dass unser Getue hier auf der Erde im Bezugssystem „Universum“ völlig bedeutungslos ist. Ändert man das Bezugssystem, kommt man zum Glück schnell wieder raus aus diesem emotionalen supermassereichen schwarzen Loch. Freunde, Familie und Lieb sein beruhigen. Im Gegensatz zur kosmischen Nichtigkeit hat auch das Wort aus dem Dictionary of Obscure Sorrows diese positive Seite. Es lautet
galagog: the state of being simultaneously entranced and unsettled by the vastness of the cosmos, which makes your deepest concerns feel laughably quaint, yet vanishingly rare.

Jetzt aber mal zu eigenen Vorschlägen. Um dem Unterfangen etwa mehr Gewicht zu verleihen, vorab noch ein Zitat von Wittgenstein:
The limits of my language are the limits of my world.
Welche Begriffe brauchen wir, um die Grenzen unserer Wahrnehmung zu erweitern? Welche Konzepte verdienen ein eigenes, neuronal effizientes Wort?
Auf jeden Fall diese körperliche Unruhe und leicht elektrische Spannung, wenn man länger kein Sport gemach hat und sich verschlackt fühlt. Wissend, dass nur Gehechel, Geschwitze und die Erschöpfung im Keller der Verausgabung zurück zum sauberen Gefühl der körperlich-geistigen Ausgeglichenheit führen. Diesen Drang, Sport machen zu müssen, könnte man nennen: sich zwort fühlen. Die Mischung aus Zwang und Sport. Bitte überlegt mal, ob das wirklich das beste Wort ist. Allein kommt ich nicht weit in meiner kurzer Substack-Zeit. 😬
Das Gefühl, die Freundin nicht fragen zu dürfen, ob sie sich in prämenstrualer Lage befindet, obwohl es kein Ding wär bzw. bestimmt so ist, und sie es dann später auch erwähnt, aber weil man selbst nicht weiblichen Geschlechts ist, kriegt man es nicht richtig kommuniziert, obwohl man es nicht böse meint, sondern mitfühlen will. Wahrscheinlich gibts noch andere Beispiele für Dinge, die man ansprechen möchte, es aber nicht macht, weil man Ärger befürchtet. Es ist eine Unterart des Elefanten im Raum. Einer, der sich auf die fragile Gefühlslage des Gegenüber und die Beziehung zu der Person bezieht. Paradox ist, dass das Problem sofort im Raum ist, sobald man das neue Wort dafür einsetzt. Es löst den Konflikt nicht. Könnte aber lauten: Drucksch. Mischung aus rumdrucksen und Druck. Dritten könnte man erzählen: „Sonntagnachmittag hatte ich einen Drucks mit ihm, ich habs aber nicht angesprochen. Ist vielleicht auch besser so.“
Mich persönlich hat bis vor kurzem dieses Gefühl tierisch genervt, das in folgender Gemengelage entsteht: Ich schreib einen Newsletter und steck Lebenszeit und Herzblut rein und zweifel an mir selbst, wenn ich dabei einen Blick in die Literatur der echten Profis werfe – David Foster Wallace, Du Gott! – aber egal, ich sag mir selbst: „Write like nobody is reading.“ Ich brauch keine Likes oder Kommentare. Und dann kommt der Newsletter raus, und die Erwartungshaltung mit ihm. Aber die soll weggehen, die wird ohnehin nicht erfüllt, die drei Likes reichen diesem gierigen Biest nicht. Ekelhaft, dieses Verlangen nach Bestätigung und der Neid beim Blick auf andere, die Likes bekommen und die Frage, warum niemand der vielen Abonnenten mal auf das Herz unterm Text klickt, es geht doch wirklich schnell und wäre eine nette Geste, immerhin gibt’s den Text für lau, aber nein, dieser Aufmerksamkeits-Ökonomie-Scheiß muss durchbrochen werden, just Write like Nobody is Reading und finde Deinen Frieden, verdammt nochmal! Es entspannt mich, dass ich dieses Gefühl runterreflektieren konnte. Es macht sich längst nicht mehr so breit wie früher. Man könnte sagen, ich bin nach dem Posten nicht mehr so giewund. Ich verspür nicht mehr diese Gier nach Bewunderung, während ich gleichzeitig emotional sehr verwundbar bin. Auf Insta oder LinkedIn etc. sind die Leute bestimmt auch häufig giewund.
Gute Wörter braucht’s auch noch für:
Das Gefühl, nach dem Sport: Das Glück der Erschöpfung und der reinen Körperlichkeit, dieses High im Low, der Rausch ohne Kater.
Dem ähnlich: Das orgiastische Gefühl in einer Phase starker Anstrengung beim Laufen, wenn Robb Flynn von Machinehead im Lied Clenching The Fists Of Dissent die Frage stellt „Is this how we live or is this how we die?", obwohl Frage eigentlich voll kitschig ist, aber die Riffs dazu sind auch so geil!
Von
: Das Gefühl am letzten Tag der Sommerferien.Das Gefühl, das T-Shirt wegschmeißen zu müssen, weil’s so alt, ist, dass es oben am Kragen schon auseinandergeht, Mottenlöcher hat und morsch ist, man das aber OK und vielleicht auch ein bisschen cool findet und als Statement sieht gehen Schniekness und auch die Umwelt schützen will, indem man noch kein neues kauft, aber man auch die Reaktionen der Außenwelt fürchtet. Die Wehmut, wenn man es dann noch wegschmeißt, obwohl es mittlerweile wirklich schlimm aussieht.
Das Gefühl, jedes Wort eines 300-seitigen Buchs – etwas von Lisa Feldman Barrett über Emotionen und wie unsere Körper sie konstruieren – verstanden zu haben, sich aber unfähig dabei vorkommen, während man versucht, andere dafür zu begeistern. Man fühlt die Erkenntnis, kann sie aber nicht ausdrücken. Da würde man die Erinnerung gerne detaillierter abrufen können.
Lisa Feldman Barret schlägt noch vor: Chipslessness. Der Gefühlsmix, nachdem man gerade das Würz-High beim Exen einer Chipstüte erlebt hat: Extase, die übergeht in eine kurze Keine-Chips-mehr-Trauer, gefolgt von einem schlechten Gewissen ob der ungesunden Ernährung aber auch das Verlangen nach MEHR! und die Selbstrechtfertigung, man habe ja neulich Sport gemacht.
So, und jetzt ihr! Ideen, für Wörter die obige Konzepte besser beschreiben? Konzepte, die unbedingt Wörter brauchen? Auf das dies der erste Substack-Post mit einem Kommentar wird.
So weit, so gut. Ich werd wieder rüber zu
😘
Das Display hatte auch vermeintlich wichtiges mitzuteilen: Es blinkte rot, als der Typ unterm Helm bremste (nur leuchten wäre stressfreier) und als er rechts abbog, animierte es einen richtungsweisenden Pfeil. Lichtverschmutzung!
Das gemischte Gefühl nach einer langen Reise nach Hause zu kommen - einerseits freut man sich auf die Vertrautheit und die vermissten Menschen und Umgebung, andererseits fühlt sich alles etwas gesehen, grau und unspektakulär an nachdem man wochen- oder monatelang täglich seine Gier für neues befriedigt hat. Ich fühle mich etwas "heimweilig", eine Mischung aus Heimweh und langweilig.
bluemon - das Gefühl, weil morgen Montag bzw. der erste Tag nach den Ferien ist. ALSO JETZT GERADE