Ein Abend mit Albert Einstein
Seine Nachkommen waren tatsächlich da: bei der Feier zum 110-jährigen Jubiläum der Relativitätstheorie. In der Archenhold-Sternwarte, dort, wo Einstein einst ein Vortrag hielt.
Als Wegweiser funktionieren die aufgeblasenen Planeten auf dem Rasen wunderbar: Hier muss sie sein, die Sternwarte. Faszinationskribbel lösen sie nicht aus. Die Aufnahmen von Webb- und Hubbel-Teleskop wirken deutlich intensiver – vielleicht, weil sie kein Gebläsegeräusch von sich geben, keine Foliennaht zu erkennen ist und keine Halteschnüre wie bei einem Zelt befestigt sind. Trotzdem cool, die 3D-Werbung für unser Sonnensystem.

Für die Feier des 110-jährigen Jubiläums der Relativitätstheorie hatte ich einen Platz auf der Gästeliste zugespielt bekommen. Jetzt stehe ich vor der Archenhold-Sternwarte, und sie steht eingemuckelt im Grün des Treptower Parks. Allein mit meiner Small-Talk-Verstauchung gehe ich um den aus vielen Menschen bestehenden Wusel-Organismus herum, der vor dem Gebäude mit Getränken, Essen in Tonschälchen und mit Mündern Wusel-Geräusche macht.
Drinnen steht auf der ersten Tafel:
Das Universum ist das Einzige, Größte und Allumfassende.
Zunächst spüre ich ein deepes Ja! im Bauch. Dann die Frage im Kopf, wie alt der Text wohl sein mag. Was ist mit dem Multiversum?! Und dann diese absolute Gewissheit der Superlative. Punkt, keine Diskussion! Klingt etwas religiös. Leichter Ausschlag des Bullshit-Detektors.
Jedenfalls: Durch die Archenhold-Sternwarte hallt das Präsenz-Echo von Albert Einstein. Am 2. Juni 1915 ging er zu Fuß hier her – er ging viel und gern zu Fuß –, um den Vortrag „Relativität der Bewegung und Gravitation“ zu halten.

An diesem Tag stellte Einstein zum ersten Mal seine Relativitätstheorie vor. Jenes Dickschiff von Theorie, das unser Verständnis von Raum und Zeit revolutionierte und bis heute prägt (im Duett mit der Quantenphysik). Sie ist intuitiv nicht einfach nachvollziehbar. Aber mathematisch macht sie klar, dass
„Zeit eine Illusion ist” (A. Einstein),
Raum und die oben genannte Illusion vom Bewegungszustand des Beobachters abhängen (Zeit vergeht langsamer für bewegte Beobachter, bewegte Objekte erscheinen verkürzt),
die Geschwindigkeit des Lichts im Vakuum für alle Beobachter gleich ist,
Energie und Materie quasi das Gleiche sind (E = m*c2) und
Gravitation weniger eine Kraft ist als eine geometrische Eigenschaft der Raumzeit (die durch Massen und Energie gekrümmt wird).
Im Vorraum des großen Saales der Archenhold-Sternwarte steht eine Säule, eingewickelt in dünne, silberne Folie, wie man sie von Rettungsdecken kennt. In einer Aussparung hockt ein Fernseher, aus dem ein collagenartig zusammengesetztes Abbild A. Einsteins Zitate von sich gibt. Zeit sei demnach nicht nur eine Illusion. „Der einzige Grund für die Zeit ist, dass nicht alles gleichzeitig passiert“, sagt der einfach immer sympathisch aussehende Physiker.
Ich gehe in den Einstein-Saal, wo noch viele Plätze frei sind. Im vordersten Drittel setze ich mich schräg hinter einen Mann mit einem Scheitel, der mich frösteln lässt. Ich stelle mir vor, wir der Mann in einem Gespräch Salven kalter Argumente abfeuert. Die Geschwindigkeit, mit der er durch seine LinkedIn-Wall scrollt und die aufmerksamkeitsbefreite Klick-Hektik seines Daumens treiben mir das Wort kokainesk ins Bewusstsein. Der Mann trägt einen karogemusterter Anzug.
Hinter mich setzen sich zwei Männer, die alt klingen und sich sehr nah anfühlen. Obwohl ihre Münder zu Zentimeter von meinem Nacken entfernt zu sein scheinen, drehe ich mich nicht um. Ich ziehe mein Handy in den für sie toten Winkel an meinem Bauch und notiere Gesprächsfetzen der alten Männer:
Der eine: „Newtons Gesetz?! Ob das überhaupt ein Gesetz ist … da kam ja auch viel über Euler … noch nicht mal eine Vektorgleichung ist das … Wortklauberei … da musst Du ja die halbe Wissenschaft umbenennen …“
Der andere: „Was nicht wirklich praktikabel ist … ist die Hüfte bei Dir schon Thema?“
Der eine: „Nein, steht aber auf der Liste.“
Der andere: „Du musst die Tricks kennen … ich hatte sie alle … Mandelbrot hab ich in seiner Etagenwohnung in Paris interviewt … seine Frau hatte einen netten Kuchen gebacken … Und Weizenbaum hatte ich drei Mal … ich hatte sie alle.“
Jemand dimmt das Licht im Saal runter, und als die beiden alten Männer verstummen, fühlt es sich angenehmerweise so an, als würden sie sich aus meinem Nacken zurückziehen.
Ein Doktorand aus Potsdam spring auf die Bühne und will dem Publikum die Zeit erklären. (Ich versuchte es einst hier und hier.) „Viele von ihnen haben damit ja bereits reichlich Erfahrung gemacht“, sagt er. Das schüttere, hagere, graue Gelächter schwappt schon ein Weilchen durch den Saal, als auch ich endlich den Alte-Leute-Witz verstehe. Dann zieht der Doktorand seinen Kapuzenpulli aus und performt im Glitzermuskelshirt. Mit Zitaten aus Songs von Beyoncé, Madonna und Taylor Swift erklärt das relativistische an der Relativitätstheorie. Wie es zur Zeitdilatation kommt, wenn man sich in Relation zu jemand anderem schnell bewegt. Das geht mit Popstars besser als mit Kant, der sagte:
„Die Zeit ist nicht etwas, was für sich selbst bestünde, oder den Dingen als objektive Bestimmung anhinge, mithin übrig bliebe, wenn man von allen subjektiven Bedingungen der Anschauung derselben abstrahiert; denn im ersten Fall würde sie etwas sein, was ohne wirklichen Gegenstand dennoch wirklich wäre.“
He lost me at „wenn man von allen subjektiven Bedingungen der Anschauung derselben abstrahiert“.
Tim Florian Horn, Chef der Berliner Planetarien, tritt auf die Bühne, jene Bühne, DIE BÜHNE! auf der Albert Einstein vor 110 Jahren IN DIESEM SAAL! seinen Vortrag über die Relativitätstheorie gehalten hat.
Verschmitzt, sympathisch und demnach ein wenig eichhörnchenhaft moderiert Tim Florian Horn durch die Bedeutungsschwere der Raum-Zeit-Koordinate, in der wir uns befinden: „Hier vor 110 Jahren, meine Damen und Herren …“
Zum echten Superstar wurde Einstein allerdings erst vor 100 + 4 Jahren, also 1919. Um die Raumkrümmung und damit die Ablenkung des Lichts in der Nähe großer Massen nachzuweisen, brauchte er eine totale Sonnenfinsternis. Denn wenn das Licht eines Sterns vom Gravitationseffekt unserer Sonne abgelenkt wird, scheint er an einer anderen Position zu sein, als wenn sein Licht nicht abgelenkt wird. Nachts kann man die Position eines Sterns gut messen, aber tags blendet die Sonne zu stark – es sei denn, sie wird vom Mond verdunkelt. Die Messungen zweier Teams, die Einstein zur Sonnenfinsternis auf die Insel Príncipe (vor der westafrikanischen Küste) und nach Sobral in Brasilien schickte, bestätigten den Gravitationslinseneffekt. Später konnten weiter Phänomene nachgewiesen werden, die die Relativitätstheorie vorhergesagt hatte (bspw. Schwarze Löcher, Gravitationswellen, Atomuhren).
Im folgenden Vortrag auf DER BÜHNE! begeistert die Astrophysiker Suzanna noch einmal für unsere verrückte Raumzeit, dann ein Geigenkonzert, das ich nicht gewöhnt bin. Ich fühle mich wie ein Resonanzkörper, der die Live-Musik verstärkt, mein Hirn kitzelt.
Danach dann grillen im Garten. Als ich aufstehe und einen Blick auf die alten Männer werfe, die so nah hinter mir saßen, erkenne ich einen wieder. Dem einen verdanke ich – thematisch zum Abend passend – einen Trip in die kasachische Steppe, wo ich einst eine Sojus-Kapsel vom Himmel hab fallen sehen. Sie hatte sich von der ISS abgekoppelt, die mit 28.000 km/h die Erde umkreist (in 90 Minuten), und sich dann durch unsere Atmosphäre gerieben. Dann zwei Überschall-Knalls, drei riesige Fallschirme – da klatschen die Leute von Roskosmos vor Freude – und kurz darauf stiegen aus der verkohlten Kapsel unter anderem Charles Simonyi, der als Entwickler von MS Office Programmen reich geworden war und 24 Millionen für den Space-Trip bezahlt hatte.
Welch ein Erlebnis! Dennoch ist mir nicht nach einem Plausch mit dem alten Mann, dem ich es zu verdanken habe. Und der sie alle hatte. Ich verschwinde in der professoralen, astrophysikalisch angehauchten Menge, die zum Ausgang in den Garten strömt.
Beim Blick nach oben erkenne ich die Mündung des Treptower Riesenfernrohrs, ein 130 Tonnen Koloss, der heute noch voll einsatzfähig ist. Also wieder rein, durch die kleine Ausstellung, vorbei an einem Meteorit, der etwa so groß ist wie der Rumpf eines Schimpansen, aber 240 Tonnen wiegt, und rauf auf die Dachterrasse.
Da fällt mir ein: Ein Blick ins Universum ist immer ein Blick in die Vergangenheit. Das Licht, das wir sehen, kann nicht mehr als runde 300.000 km pro Sekunde zurücklegen. Je weiter der Weg, den es zurückgelegt hat, desto älter ist es.
Was uns zur neuen und bislang größten Karte unseres Universums führt, die am 5. Juni 2025 vorgestellt wurde. Die COSMOS-Web-Karte zeigt fast 800.000 Galaxien und ist die wohl deepeste Karte ever: Sie reicht 13,5 Milliarden Jahre zurück und deckt damit rund 98 % der kosmischen Zeit nach dem Urknall ab.
Eine Aufnahme, die deutlich intensiver wirkt, als die aufgeblasenen Planeten auf dem Rasen vor der Archenhold-Sternwarte. Zur gerne würde ich einen Kopfsprung rein machen.

Digital geht das ein bisschen auf der COSMOS-Website. Dort kann man deep reinzoomen: https://cosmos2025.iap.fr/fitsmap/
PS: Ja, „… dort, wo Einstein einst ein Vortrag hielt“ hätte er korrekter weise „einen“ Vortrag halten müssen. Aber leider hieß er nicht Einsteinen, hihi.